Was macht mich handlungsfähig?

| erschienen in der feministisch-theologischen Zeitschrift der Schweiz FAMA

Mit Herzblut bei der Sache

Im Laufe meiner politischen Tätigkeit als Nationalrätin der Grünen bin ich immer wieder gefragt worden, wie ich es überhaupt aushalten würde in der Politik, als Vertreterin einer Minderheit, als Angehörige einer Gruppe, die mit ihren Anliegen meistens unterliege. Ob ich es denn nicht frustrierend fände, immer zu verlieren, und woher ich die Energie nähme, um immer wieder weiterzumachen.

Was macht mich handlungsfähig?

Die Energie ist mir glücklicherweise bis heute nie ausgegangen, und angesichts der vielen Felder, die es zu bearbeiten gibt, habe ich mir die Frage, woher ich die Energie nehme, auch gar nicht so oft gestellt. Eine gute Balance zwischen öffentlichem Engagement und Rückzug ins Private und ein gutes persönliches Umfeld sind nicht zu unterschätzende Energiequellen. Und dann ist es auch noch individuell verschieden: Die einen leben auf, wenn sie sich viel und laut einmischen, andere kostet das viel Kraft. Ich gehöre ganz offensichtlich zu den ersteren.

Zum Handeln angeregt wurde ich, weil ich über bestehende Verhältnisse so empört war, dass ich sie verändern wollte, weil mir Ungerechtigkeiten unter den Nägeln brannten. Ich erinnere mich noch sehr genau an die fremdenfeindliche Schwarzenbach-Initiative, die im Jahre 1970 zur Abstimmung kam und die verlangte, dass der Anteil der ausländischen Bevölkerung in der Schweiz nur noch 10% betragen dürfe. Die Annahme der Initiative hätte die Ausweisung von Hunderttausenden von ImmigrantInnen bedeutet. Ich war damals als junge Lehrerin im Entlebuch tätig und trug einen Abstimmungsknopf mit der Aufschrift «Schwarzenbach ab!» Es gab eine heftige Kontroverse über die Initiative, in die ich mich damals als Nachfahrin italienischer Einwanderer engagiert und betroffen einmischte – aber abstimmen und an die Urne gehen durfte ich nicht! Frauen hatten noch kein Stimm- und Wahlrecht. Diese Diskriminierung hat meinen Gerechtigkeitssinn dermassen tief und nachhaltig verletzt, dass ich in die einige Jahre später entstehende Neue Frauenbewegung eintrat und mich seither ohne Unterbruch gegen jegliche Formen von Diskriminierungen zur Wehr setze. Anfänglich war es also die eigene Erfahrung von Diskriminierung als Frau in einer patriarchalen Welt, welche mich handlungsfähig gemacht hat. Mit der Arbeit in der Frauenbewegung und später in der Grünen Partei kam die Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse in Bezug auf die Ungerechtigkeit zwischen den Geschlechtern, zwischen Arm und Reich, zwischen Norden und Süden dazu, und so bekam mein Handeln ein politisches Fundament, das es bis heute leitet.

Was heisst überhaupt handeln?

Handeln heisst für mich, mich politisch zu äussern, mich in Debatten einzumischen, Stellung zu beziehen, heisst auch Institutionen und Personen zu unterstützen, welche sich engagieren. Das bedeutet, dass ich selber in entsprechenden Organisationen mitarbeite, dass ich meinen Namen für öffentliche Stellungnahmen zur Verfügung stelle und dass ich in meinem Sinne tätige Organisationen finanziell unterstütze.

Mitreden und mir Gehör verschaffen ist mir wichtig. Wenn ich an meine Arbeit bei den Grünen zurückdenke, dann war es nicht nur wichtig zu gewinnen und Mehrheiten zu schaffen. Ich bin felsenfest davon überzeugt, dass es wichtig ist, dass es uns Grüne mit unseren visionären und radikalen Ideen gibt. Ich bin sicher, dass es wichtig ist, dass es eine Gruppe gibt, die gegen die neoliberalen Sanierer anredet und ankämpft, die uns weismachen wollen, dass der Profit und schwarze Zahlen wichtiger seien als die Gesundheit und das Wohlergehen der Menschen, gute Bildung, der Schutz der Umwelt und ein gutes Leben für alle auf diesem Planeten. Auch wenn wir Grüne es oft auf verlorenem Posten tun, bin ich überzeugt, dass es wichtig ist, diese zukunftsträchtigen Ideen in den politischen Prozess einzuspeisen und sich Gehör zu verschaffen. Diese Gedanken sind irreversibel in die Welt gesetzt und sie wirken, wenn auch oft sehr langsam. Wenn ich den Glauben an diese Art von langfristiger Wirksamkeit nicht hätte, wäre ich schon lange verzweifelt! Ein Parlamentsmandat im Nationalrat ist eine ideale Plattform, um sich Gehör zu verschaffen, und dieses Stück Definitionsmacht habe ich in den 14 Jahren meiner Parlamentstätigkeit rege und oft auch lustvoll genützt.

Woran orientiert sich mein Handeln?

Wenn ich gefragt werde, woran sich mein Handeln orientiere, steckt dahinter nichts anderes als die Frage nach meinem Menschen- und Weltbild, also nach der ethischen Grundlage, auf die ich mich beziehe. Diese Frage wurde mir auch schon von einem Journalisten gestellt, der mit mir ein Interview machte unter dem Titel „Wie hältst du es mit der Religion?“. Er befragte mich zu meiner Beziehung zur Kirche und zum Verhältnis meiner Politik zu religiösen Grundwerten. Ich habe auf die auffallenden Parallelen zwischen den christlichen Grundwerten und jenen der Grünen Politik hingewiesen.

Wie bereits gesagt, hat mich die eigene Erfahrung von Ungerechtigkeit stark sensibilisiert für Ungerechtigkeiten in der Gesellschaft überhaupt. Es war zu Beginn noch nicht eine politische Prägung, die mich hellhörig machte, es war die konkrete Erfahrung der Diskriminierung als Frau. Und das vor dem Hintergrund einer religiösen Sozialisation, die mich gelehrt hatte, dass vor Gott alle Menschen gleich seien, dass jeder Mensch ein Ebenbild Gottes sei, dass alles, was man dem geringsten seiner Brüder antue, man Gott antue, und dass man seinen Nächsten lieben solle wie sich selbst. Von Schwestern sprach man damals noch nicht, das kam erst später mit der feministischen Theologie auf, der ich mich von Anbeginn sehr verbunden fühlte, weil sie innerhalb der Kirche den gleichen Kampf kämpfte wie ich in der Politik.

Die Kirche hatte mir mit Jesus von Nazareth einen Menschen als Vorbild gegeben, der nicht auf der Seite der Habenden, sondern auf jener der Habenichtse gewesen war, und der all die Aussenseiter, die Geächteten und Verstossenen der Gesellschaft in sein Herz geschlossen hatte. Wenn ich das in die politische Sprache übersetze, heisst das nichts anderes, als dass alle Menschen eine unveräusserlich Würde haben, dass alle Menschen, ohne Ansehen der Herkunft, des Geschlechtes, der Religion und Sprache, der sozialen Stellung, gleichwertig sind. Ich bin sicher, dass mein Einstehen für Gerechtigkeit, für Schwache, für Menschen am Rande der Gesellschaft auch mit meiner Sozialisation in der katholischen Kirche zu tun hat.

Wie ich es aushalte, wegen dieses Einstehens angefeindet zu werden, woher ich die Kraft nehme, immer wieder anzutreten, mich auszusetzen und eben auch immer wieder zu unterliegen, werde ich manchmal gefragt. Die Überzeugung, nicht nur das richtige Menschenbild zu vertreten, sondern auch dafür einzustehen, wenn Menschen ungerecht behandelt werden, gibt Energie und Kraft zum Weitermachen.

Viele der religiösen Werte, die mich geprägt haben, sind auch die Grundwerte meiner Politik. Wenn die Bibel zur Bewahrung der Schöpfung aufruft, heisst das in die Sprache der Politik übersetzt: Schutz der Umwelt und Nachhaltigkeit. Aus dem Gebot zur Bewahrung der Schöpfung ist für mich mein Engagement für eine lebenswerte Welt geworden – und zwar nicht nur für mich hier und heute in der Schweiz, sondern für alle Menschen auf diesem Planten und auch für die kommenden Generationen. Ich finde deshalb den Gedanken unerträglich, dass wir uns unseren Lebensstil dank einer Energie leisten können, die für Generationen nach uns tödlich strahlende Abfälle hinterlässt. Ich finde den Gedanken unerträglich, dass wir mit unserem Lebensstil diesen Planeten so aufzuheizen, dass die kommenden Generationen durch Wirbelstürme und Überflutungen mit massiver Zerstörung und Tod bedroht sind, ohne dass ich dagegen etwas getan hätte: nämlich einerseits selber umweltgerecht zu leben und andererseits politisch immer wieder einzufordern, dass unser Handeln nachhaltig sein müsse. Viele der Werte, die mir durch die Kirche vermittelt worden sind, decken sich mit den Werten, für die ich politisch einstehe. Und es gibt und gab immer wieder gemeinsame Anliegen. Ich denke da zum Beispiel an das Engagement gegen die Verschärfungen im Asylrecht, um gerade ein aktuelles Beispiel zu nennen. Es gibt also durchaus Parallelen zwischen Parteien und Kirchen. Beides sind Institutionen, die Menschen Werte vermitteln, die Sinn stiften, die Stellung nehmen zu gesellschaftspolitischen Fragen. Es gibt aber auch die ganz grosse Kritik an der katholischen Kirche in Bezug auf die Stellung der Frauen und wegen ihrer Haltung gegenüber der Homosexualität und gegenüber der Sexualmoral überhaupt.

Was will ich mit meinem Handeln erreichen?

Mit meinem Handeln will ich erreichen, dass die Welt ein Stück gerechter wird. Es kann doch nicht sein, dass täglich Hunderte von Kindern verhungern, während andere nicht mehr wissen, was sie mit dem zusammengerafften Reichtum noch alles tun sollen! Es kann doch nicht sein, dass ich diesem Wahnsinn tatenlos zusehe! Durch mein politisches Handeln fühle ich mich als Teil eines Netzwerkes von Menschen hier und weltweit, die diesem Wahnsinn ebenfalls nicht tatenlos zusehen wollen. Meine Verbündeten in diesem Kampf sind all die Frauen und Männer auf dieser Welt, die dort, wo sie stehen, sich für Gerechtigkeit und Frieden, für ein gutes Leben für alle Menschen einsetzen. „Global denken, lokal handeln“ ist nach wie vor eine wichtige Leitschnur für mein Handeln. Als Weisse und als privilegierte Mittelstandsfrau möchte ich durch mein politisches und berufliches Engagement etwas von dem, was mir einfach so auf den Lebensweg mitgegeben worden ist, denen zurückgeben, die nicht zu den Privilegierten gehören. Es ist zwar nur der berühmte Tropfen auf den heissen Stein, aber viele Tropfen zusammen ergeben auch ein Meer! Und was wäre die Welt ohne diesen Tropfen? Die Beantwortung dieser Frage in ihrer globalen Dimension ist nicht möglich. Aber für mich selbst ist mein Engagement wichtig. Die Vorstellung, nichts gegen die schreienden Ungerechtigkeiten in der Welt zu tun und nur für mich und mein privates Wohlergehen zu schauen, wäre mir unerträglich.

Was treibt mein Handeln an?

Womit ich bei der Frage nach der Triebfeder für mein Handeln bin! Ich würde schlicht und einfach krank, wenn ich einfach nur ohnmächtig zuschauen und mich nicht wehren würde gegen das, was falsch läuft. Ich könnte mit meinen hohen ethischen Ansprüchen auch nicht mehr mit gutem Gewissen in den Spiegel schauen, wenn ich mich einfach nur um mich und mein eigenes Glück kümmern würde. Es gibt verschiedene Arten und verschiedene Orte des Mitredens, des sich Einmischens: in der Arbeitswelt, in Berufsverbänden, in NGOs, in Komitees und an Aktionen. Es muss nicht – kann aber auch – in einer Partei sein. Aber immer gilt, dass es für die, die mitreden können, gut ist, dass sie es tun können. Ausgeschlossen sein, sich ohnmächtig fühlen, das Schicksal nicht auch ein Stück in die eigenen Hände nehmen zu können, über Wichtiges kein Mitspracherecht zu haben, macht krank! Nicht umsonst führen die Entlassungswellen der letzen Jahre zu vielen Krankheiten und Traumatisierungen, und der alarmierende Anstieg der an Depressionen erkrankter Menschen ist Ausdruck dieses Trends. Das Sich-Einmischen hat etwas Befreiendes, etwas Heilsames. Mitreden können gibt nicht nur individuell ein Gefühl des Wohlbefindens; es lässt andere teilhaben am Wissen und Können, es stärkt dadurch die Identität und Selbstsicherheit. Sich stark machen, die eigenen Ressourcen und Fähigkeiten stärken und mit denen der anderen vernetzen, gibt Stärke, Zusammenhalt. Dieses Empowerment ist Prävention im besten Sinn!

Sich einmischen kann man also überall und überhaupt nicht nur im Rahmen einer Partei oder mit einem Ratsmandat. Ich selber habe den Umstieg gemacht vom Nationalrat in die NGO-Szene, bin heute Geschäftsleiterin des Christlichen Friedensdienstes cfd, einer feministischen Friedensorganisation, und Präsidentin des Stiftungsrates von Greenpeace. Beides sind politische Organisationen und die Arbeit dort drin ist darum auch hochpolitische Arbeit. Ich betrachte es als Privileg, in Institutionen zu arbeiten, in denen ich mit Herzblut bei der Sache sein kann. Für Engagements für eine gerechtere Welt gibt es viele Möglichkeiten! Und verschiedene Motive, aber Hauptsache frau tut es! Das Schlimmste ist, wenn man sich angesichts des Elends der Welt lähmen und die Energie entziehen, sich entpowern lässt!

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