Interview: Generationen

| erschienen in Luzerner Zeitung

Was 1968 aus uns gemacht hat

Was haben Frauenaktivistinnen der 1970er-Jahre mit jungen Frauen von heute gemeinsam? Ein Austausch über die Spuren von 1968 zwischen der Luzerner alt Nationalrätin Cécile Bühlmann (Grüne) und der Ostschweizer Moderatorin Gülsha Adilji.

Interview: Julia Stephan

Cécile Bühlmann, als das Fernsehen 1968 Bilder von Steine werfenden Pariser Studenten übertrug, habe Sie das verstört, schreiben Sie. Warum?
Bühlmann: Weil ich mich zu jener Zeit als Schülerin einer katholischen Klosterschule in einer komplett anderen Realität bewegte. Wir durften weder Hosen tragen noch strumpf- oder ärmellos herumlaufen. Pfeifen, lautes Lachen – alles war verboten! Es war eine unglaublich konservative Welt. Als Frau konntest du entweder unter klösterlichen Bedingungen eine Ausbildung machen oder einen besser gestellten Mann heiraten und Kinder bekommen.

Hinterlässt so etwas Spuren?
Bühlmann: Meine Familie war in solchen Dingen liberal. Doch als ich nach zwölf Schulwochen meine Schwestern in ärmel­losen Sommerröcken wiedersah, dachte ich: Mensch, sind die billig! Dieses strenge Regelkorsett hinterliess das Gefühl, dass man nie in Ordnung sei, wie man ist.

Gülsha Adilji, Sie waren das Aus­hängeschild des eingestellten ­Jugendsenders Joiz und sind eine wichtige Stimme der nach 1980 Geborenen. Cécile Bühlmanns Generation warf für die Legalisierung der Abtreibung noch nasse Windeln in den Nationalratssaal. Was müsste mit der Generation Y passieren, dass sie sich auf der Strasse Gehör verschafft?
Adilji: Mir das vorzustellen, fällt mir schwer. Möglich, dass der Internetaktivismus heute viele Proteste auf der Strasse ersetzt. Ich bin heute aber nicht mehr mit solchen Einschränkungen bei der Wahl meines Lebensmodells konfrontiert. Dafür erlebt meine Generation eine nicht minder gewaltsame Gehirnwäsche über den Konsum. Werbung und Social-­Media-Vorbilder führen zu falschen Schlüssen und Moralvorstellungen.

Wir können heute vegan leben, bescheiden oder im Überfluss. Ist Wahlfreiheit auch eine Belastung?
Adilji: Ich vergleiche unsere Situation gerne mit einer Autobahn. Früher gab es Leitplanken. Wer ausscherte, ist gegen die Leitplanke geknallt. Heute tummeln sich Velos, Fussgänger und Autos auf derselben Fahrbahn. Es gibt keine Leitplanken mehr. Und wir kollidieren ständig, weil es keine Stossrichtung mehr gibt und wir nicht wissen, was wir wollen. Das führt zu Resignation.

Warum? Apolitisch scheint diese Generation im Privaten ja nicht zu sein. Man leiht sich Dinge aus und züchtet sein eigenes Gemüse.
Adilji: Ja, man unterhält sich dauernd über Nachhaltigkeit. Doch dann zeigen einem die eigenen Freunde am nächsten Tag ihre vollen H&M-Tüten. Man will strukturell nicht wirklich etwas verändern. Wenn ich nicht einmal in meinem engsten Freundeskreis etwas verändern kann, wie dann im Grossen?

Bühlmann: Es betrübt mich sehr, dass Sie als junge Frau dieses Gefühl der Machtlosigkeit haben. Das ist ein Unterschied zu uns: Wir kannten viele dieser Zusammenhänge noch gar nicht.

Können Sie als treibende Kraft der neuen Frauenbewegung Frau Adilji sagen, wie Sie ihr Gefühl der ­Ohnmacht abstreifen kann?
Bühlmann: Frau kann nicht allein die Welt verändern! Es braucht eine Gruppe, um Power zu entwickeln und optimistisch zu bleiben. In der Diskussion mit anderen erkannte ich Anfang der 1970er, dass mein persönliches Problem – schon als 16-Jährige wusste ich, dass ich das traditionelle Familienmodell nicht leben wollte – ein strukturelles ist.

Jüngere Frauen denken wieder ans Heiraten und Kinderkriegen.
Bühlmann: Wir von der Frauenbewegung stellten das damals radikal in Frage. Die Einschränkungen für Mütter waren riesig! Es gab weder Tagesschulen noch Kinderkrippen. Frauen meiner Generation, die sich früh aus dem Erwerbsleben zurückzogen, leben heute in Armut. Die Frage, ob Kinder oder nicht, wird heute trotzdem kaum gestellt. Die Frage ist nur noch, wann man sie hat.

Adilji: Wer heute sagt, er wolle keine Kinder, bei dem setzt man schnell voraus, dass es aus gesundheitlichen Gründen nicht geht. Das wird tatsächlich immer noch komisch aufgenommen.

Wie wird man Feministin?
Bühlmann: Mein Gerechtigkeitssinn sagte mir früh, dass es nicht okay sei, dass meine Mutter mit fünf Kindern zu Hause bleiben musste und ihre beruflichen Träume nie verwirklichen durfte, mein Vater hingegen schon.

Adilji: Das kam mit Mitte zwanzig, als ein Ex-Freund mich in eine Rolle drängen wollte, die mir nicht gefiel. Ich fragte mich: Wer möchte ich sein? Und erkannte: Ich bin Feministin. Damals traute ich mich das Wort kaum zu verwenden.

Frau Bühlmann, erinnern Sie sich noch an die Einführung des Frauenstimmrechts?
Bühlmann: Und vor allem an die Zeit ­davor! Im Jahr 1970 war ich 21 Jahre alt und unterrichtete bereits als Lehrerin. Ich habe den Ablehn-Knopf gegen die Schwarzenbach-Initiative getragen, worauf mir der Schulpräsident erklärte, ich hätte mich als Frau dazu nicht zu äussern.

Adilji: Verrückt! Das erinnert mich an den Film «Die göttliche Ordnung». Der ging mir so nah, dass ich sogar weinen musste.

Warum richten junge Städter dann heute ihre Wohnungen wieder mit Blümchentapete und schweren Möbeln ein?
Bühlmann: Wer diese Zeit nicht erlebt hat, ist unbelastet, sieht darin eine Retro-Mode. Wohnen war früher uniformierter. Eine bürgerliche Stube sah überall fast gleich aus. Heute ist das vielseitiger!

Wie ist das für Sie, Frau Bühlmann, wenn Sie die jüngere Generation mit diesem geistigen Symbolerbe der 1968er herumlaufen sehen?
Bühlmann: Mir ist es lieber, dass Che-Guevara-Bilder oder Palästinensertücher noch verwendet werden, als dass man sich davon distanziert. Besser ein Peace-Zeichen ankleben als einen Stalin!

1968 gab’s die ersten WG. Wie lebt man heute?
Adilji: Der Grossteil meiner Freunde um die 30 lebt immer noch in einer WG. Nicht aus ökonomischen Zwängen! Man schätzt das Gemeinschaftsgefühl.

Was muss sich in dieser Welt noch dringend verändern?
Bühlmann: Das Patriarchat muss abgeschafft werden! Und der verschwende­rische Lebensstil! Wenn es nicht gelingt, so zu leben, dass der Planet daran nicht zugrunde geht, nützen uns gleiche Löhne auch nichts mehr! Das meine ich nicht zynisch, sondern ernst: Wir sind drauf und dran, unsere Lebensgrundlage aufs Spiel zu setzen!

Adilji: Wie Geschichten erzählt werden! Am Ende eines Liebesfilms sollte nicht geheiratet werden! Und unser Schulsystem sollte endlich aufhören, Kinder zu benoten. Und bei alldem sollten wir unsere Kritikfähigkeit nicht verlieren. Wenn etwas nicht funktioniert, machen wirs künftig halt anders.

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