Im Land der verbotenen Kinder
| Text erschienen im "Zentralplus" vom 05.01.2023
Geschichte der versteckten Kinder in der Schweiz
Geschichte der versteckten Kinder in der Schweiz
In ihrem dritten Dokumentarfilm beleuchten die Luzerner Filmemacher Beat Bieri und Jörg Huwyler ein dunkles Kapitel der Schweizer Ausländerpolitik: den Umgang mit den Saisonnier-Arbeitern und ihren Familien.
Brücken, Tunnels, Hochhäuser. Bis die Schweiz im Jahr 2002 die Personenfreizügigkeit angenommen hat, wurden in den Jahrzehnten davor für unzählige Bauprojekte Saisonniers als günstige Arbeitskräfte ins Land geholt. Für neun Monate pro Jahr haben Männer und Frauen aus Italien, Portugal, Spanien und anderen Ländern hier gelebt und gearbeitet.
Ihre Familien mussten sie allerdings im Heimatland zurücklassen. Das Schweizer Gesetz erlaubte es damals nicht, dass Partner und Kinder nachziehen. In der Folge haben viele Saisonniers ihre Familie monatelang nicht gesehen – oder sie illegal in die Schweiz geholt und versteckt gehalten. Ein Leben im Schatten, von der Aussenwelt isoliert, in ständiger Angst, entdeckt zu werden.
20 Jahre nach Aufhebung des Saisonnierstatuts ist die Zeit des Schweigens vorbei: Anfang Oktober 2021 gründeten Betroffene in Zürich den Verein Tesoro und fordern politische und gesellschaftliche Anerkennung für das verursachte Leid.
Dritter Film von Luzerner Regie-Duo
«Im Land der verbotenen Kinder» ist der dritte gemeinsame Kino-Dokumentarfilm für das Luzerner Regie-Duo Beat Bieri und Jörg Huwyler, der hauptsächlich in der ereignisreichen Zeit vor rund 50 Jahren spielt. 2019 spannten die beiden Filmemacher für ihren Erstling «Nach dem Sturm» zusammen, ein Film, der die Luzerner Krawallnacht vom Januar 1969 und die daraus folgenden Unruhen und gesellschaftlichen Veränderungen der Revoluzzergeneration beleuchtete (zentralplus berichtete). Mit «Das katholische Korsett» thematisierten Bieri und Huwyler 2021 den Widerstand gegen das Frauenstimmrecht 1971 in der Zentralschweiz.
Das Thema der Saisonnier-Kinder ist den beiden während den ausgiebigen Recherchen zu den Vorgängerfilmen immer wieder begegnet. «Wir haben aber gemerkt, dass bei den Betroffenen noch immer eine grosse Scham vorhanden ist», sagt Beat Bieri. «Kinder schwiegen, weil sie das Vorgehen der Eltern nicht kritisieren wollten. Und die Eltern schwiegen, weil sie den Kindern gegenüber ein schlechtes Gewissen hatten.»
Die aufwendige Suche nach Betroffenen
Aber manchmal gehe ein «Fenster» auf und Leute seien dann doch bereit, über ihre Erlebnisse zu sprechen. Ein ähnliches Phänomen ist dem Luzerner Filmemacher bei den Dreharbeiten zu seinem Dokfilm über die Jahrzehnte des Missbrauchs im ehemaligen Kinderheim Rathausen begegnet.
Fremdenhass in Luzern
Abgesehen davon, dass die Betroffenen sich jetzt an die Öffentlichkeit wagen, hatten Bieri und Huwyler noch eine andere Motivation für den Film. «Auch heute noch wird in der politischen Debatte gelegentlich vorgeschlagen, das Saisonnier-Statut zur Regulierung der Migration wieder einzuführen. Das finde ich haarsträubend. Dieses System hat traumatische Biografien erzeugt», so Bieri. Seiner Meinung nach wissen viele nicht, was das Statut damals genau beinhaltet und angerichtet hat – das zeigt sich auch in Archivaufnahmen, die im Film zu sehen sind.
Über Beat Bieri und Jörg Huwyler
Mit Dokumentarfilmen kennen sich die zwei mittlerweile freischaffenden Filmemacher aus. Beat Bieri hat während 25 Jahren rund 50 Filme für die Dok-Reihe des «SRF» gedreht. Jörg Huwyler war mehrere Jahre als Redaktor und Reporter für «SRF» und «3sat» tätig und seit 2009 als freier Filmer tätig. Jüngst hat er den TV-Dokumentarfilm «Spitteler reloaded – Auf den Spuren eines Nobelpreisträgers» und ein filmisches Porträt über die Geschichte des Bürgenstocks realisiert. Für ihren ersten gemeinsamen Film «Nach dem Sturm» wurden sie 2021 mit einem Innerschweizer Filmpreis ausgezeichnet.
Leben im Versteckten
Nebst umfangreichem Archivmaterial haben Bieri und Huwyler zahlreiche Betroffene vor der Kamera versammelt. Zu Wort kommen nicht nur ehemalige Saisonniers selbst, die zeigen, unter welch unmenschlichen Bedingungen sie damals in maroden Arbeiterbaracken untergebracht wurden. Auch ihre Kinder erhalten im Film eine Stimme, sie erzählen heute als Erwachsene, wie sie im Geheimen auf dem Balkon oder für ein paar Minuten hinter einer dichten Hecke gespielt haben. Die Angst vor der Fremdenpolizei stets im Nacken.
Das Geschehen wird auch von einer Psychotherapeutin und von Stimmen aus der Politik eingeordnet. Eine der von Bieri und Huwyler befragten Protagonistinnen ist beispielsweise die ehemalige Luzerner Grosstadträtin und spätere Nationalrätin Cécile Bühlmann.
Sie arbeitete damals auf der Ausländerberatungsstelle Arbal in Luzern und erfuhr von den Tricks, die von Arbeitgebern angewendet wurden, um Saisonniers eine dauerhafte Aufenthaltsbewilligung zu verwehren – und somit in der Abhängigkeit zu behalten.
Heute haben sich manche der porträtierten Betroffenen mit der Vergangenheit versöhnt. Sie leben in der Schweiz, sind längst integriert und haben Familie. Das Erlebte vergessen werden sie wohl nie. Das gilt auch für die Filmemacher. «Es gab berührende Momente bei den Dreharbeiten», sagt Beat Bieri.
Kinostart am 8. Januar
An «Im Land der verbotenen Kinder» haben Huwyler und Bieri über einen Zeitraum von rund zwei Jahren gearbeitet. Auf eine grosse Crew beim Dreh haben sie verzichtet. «Wir arbeiten mit einem kleinen Team», so Bieri. Kamera und Ton haben sie selbst geführt. Unterstützt wurden sie hingegen beim Filmschnitt vom Cutter Fabrizio Fracassi und die Musik stammt aus der Feder des renommierten Musikerduos Albin Brun und Kristina Brunner (zentralplus berichtete).
«Im Land der verbotenen Kinder» startet am Sonntag, 8. Januar in den Schweizer Kinos. Die Premiere startet um 11 Uhr im Kino Bourbaki in Luzern. Eine auf rund 50 Minuten gekürzte Fassung des Filmes wird voraussichtlich im April auf SRF ausgestrahlt.
Im Land der verbotenen Kinder TRAILER from Lindenfilm on Vimeo.