Referat Münsterer Tagung

Sind alle Menschen vor Gesetz und Gott gleich?

Referat an der Münsterer Tagung 2018 zum Thema «Zwei Welten - ein Himmel» in Beromünster, 10. November 2018

Wenn wir die Erde aus einem Spaceshuttle vom Weltall aus betrachten könnten, dann sähen wir einen wunderbaren blauen Planeten. Dieser blaue Planet ist die Heimat von Millionen von Menschen, Schwarzen, Weissen, Muslimen, Christinnen, Männern, Frauen, Armen, Reichen. Aus dem Weltall gesehen, gibt es keine Grenzen, also auch keine Einheimischen und Fremden, keine Sanspapiers, keine Ungerechtigkeiten, keine zwei Welten. Der eine Himmel spannt sich über die ganze Erde, ist Projektionsfläche, Dach und Sehnsuchtsort für alle Menschen.

Unterschiedliche Perspektiven in der Schweiz und in Senegal

Wenn man aber aus dem Weltall herunterkommt und die Erde aus dem Blickwinkel eines Individuums betrachtet, sieht die Sache brutal anders aus: da kommt es sehr darauf an, wo der Zufall der Geburt einen hin verschlägt! Da spielt es eine extrem wichtige Rolle, ob ich hier in der Schweiz in eine weisse mittelständische Familie hineingeboren worden bin oder ob ich in einem Dorf im Süden Senegals auf die Welt komme. Ich nehme dieses Beispiel, weil ich während eines längeren Aufenthaltes in der Casamance ganz nahen Einblick in die dortigen Lebensverhältnisse erhalten habe. Vom ersten Moment der Geburt weg sind die Lebenschancen, die Ressourcen, unterschiedlich verteilt: während ich hier in einem Land lebe, das über einen perfekt funktionierenden Öffentlichen Verkehr, ein zwar teures, aber qualitativ hochstehendes Gesundheitswesen, gute Schulen und soziale Sicherungssysteme wie AHV, IV, Arbeitslosenversicherung und mehr verfügt, hat die Senegalesin keine auch nur ansatzweise vergleichbare Perspektive. Sie geht, wenn sie die ersten 5 Lebensjahre überlebt, - 5 von 100 Kindern tun das nicht - in eine Schule mit 60 anderen Kindern. Schulbänke werden, wenn es sie überhaupt gibt, zu fünft oder sechst gebraucht, Bücher, Hefte, Stifte sind ein absoluter Luxus, von Computern ganz zu schweigen. Wenn die Senegalesin krank wird und eine Operation benötigt, bekommt sie diese nur, wenn sie im Voraus das Geld zusammenbringt und beim Eintritt ins Spital abgeben kann. Viele schaffen das nicht und sterben deswegen.

Wenn die Senegalesin die Schule beendet hat, kann sie keine Berufslehre absolvieren, es gibt kein Berufsbildungssystem. Kommt sie aus einer eher wohlhabenden Familie, kann sie studieren. Aber ohne Beziehungen, ohne Zugehörigkeit zu einem einflussreichen Clan, findet sie kaum eine Stelle. Politiker fühlen sich auch eher dem Clan verpflichtet als dem Allgemeinwohl. Wo ein funktionierender Staat und soziale Sicherungsnetze fehlen, ersetzt die Familie, der Clan dieses Netz.

Unsere Bekannten haben uns gebeten, ob wir nicht mindestens eine Tochter in die Schweiz mitnehmen und ihr eine Arbeit vermitteln könnten. Ich fühlte mich jedes Mal ganz mies, wenn ich ihnen erklären musste, dass das wegen der Schweizer Gesetzgebung nicht geht. Ich hatte aber volles Verständnis dafür, dass ambitionierte junge Menschen wegwollten, in ein Land, von dem sie wissen, dass es alles gibt, was ihnen fehlt: Arbeit, soziale Sicherheit, eine Perspektive für die Zukunft. Ich wäre dort auch eine von ihnen, die wegwollte!! Und Sie? Stellen Sie sich vor: sie sind ein junger ambitionierter Mensch in Senegal, Sie wissen durch die Medien, was die Welt denen, die Geld haben, für Möglichkeiten bietet. Hand aufs Herz, würden Sie nicht auch ihre Situation verbessern wollen, in dem sie in eines der gelobten Länder zu gehen versuchten?

Eigene Erfahrungen in Ländern des Südens

Ich habe durch politische und berufliche Reisen in vielen Ländern des Südens Einblicke hinter die Kulissen erhalten, die normalen Touristen vorenthalten sind. Mit jeder Reise wurde mir wieder vor Augen geführt: du gehörst zu den Privilegierten auf diesem Planeten. Und das ohne mein Zutun! Das ist sowas von ungerecht! Zur ungerechten Verteilung der Güter dieser Erde kommt dazu, dass die Länder des Südens mehr am Klimawandel leiden als wir. So habe ich gesehen, wie in Senegal wegen des steigenden Meeresspiegels der Strand und die am Strand gebauten Häuser weggespült werden und die Fischer dadurch ihr Hab und Gut verlieren. Als ob es nicht schon schlimm genug wäre, dass der Ozean von den riesigen Fischtrawlern mit ihren Schleppnetzen leergefischt werden und ihnen kaum mehr etwas zum Fangen übrigbleibt!

Aus allen diesen Erfahrungen der Ungerechtigkeit leite ich für mich die lebenslange Verpflichtung ab, mich für gerechter Verhältnisse und den Schutz der Umwelt zu engagieren.

Prägende Kindheitserfahrungen

Mein Gerechtigkeitssinn wurde aber viel früher geweckt, in meiner Kindheit. So empfand es als ungerecht, dass wir für die die Kinder Afrikas mit dem «Negerkässeli» Geld sammeln mussten, damit sie in den Himmel kommen, während der Himmel für mich ohne fremde Hilfe zugänglich war. Oder ich erfuhr durch meine Mutter, die als Kind aus Italien in die Schweiz gekommen war, dass sie wegen ihrer Herkunft sehr stark ausgeschlossen und diskriminiert worden war und wie sie darunter litt. Ein weiteres Beispiel: meine Eltern erzählten uns Kindern mit grosser Anteilnahme vom schrecklichen Schicksal der verfolgten Juden im Zweiten Weltkrieg und dass sich so etwas hoffentlich nie mehr wiederhole.

Meine religiöse Sozialisation hat auch dazu beigetragen. Eine Vorbemerkung: die Frage nach dem Verhältnis zur Kirche, zum Glauben, ist etwas sehr Persönliches. In meinem bisherigen Leben, vor allem in der Zeit als aktive Politikerin, habe ich mich an Podien, am Rednerpult im Nationalratssaal, in Radio und Fernsehen immer wieder öffentlich geäussert. Da ging es aber nicht um mein Verhältnis zur Religion, sondern um mein Verhältnis zu diesem Staat und dieser Gesellschaft. Darüber weiss man relativ viel von mir. Dass aber mein politisches Engagement auch mit meiner katholischen Erziehung zu tun hat, ist weniger bekannt.

Meine persönliche Beziehung zur katholischen Kirche begann damit, dass ich in meiner Kindheit in den 50er Jahren in Sempach regelmässig zur Kirche ging. Das gehörte wie der Schulbesuch dazu: immer Sonntagmorgens zum Gottesdienst, mehrmals wöchentlich zur Schulmesse. Zu meiner Zeit war den Mädchen das Ministrieren noch nicht erlaubt. Das wenigstens hat sich in der Zwischenzeit geändert hat und ich hoffe sehr, noch zu erleben, dass auch Frauen gleichberechtigt mit den Männern als Priesterinnen ihres Amtes walten können. Denn gerade diese Ungerechtigkeit den Frauen gegenüber hat zur Entfremdung von mir mit der offiziellen römisch-katholischen Kirche geführt. Bis heute wird zur Begründung der Diskriminierungen der Frauen in der katholischen Kirche die neutestamentliche Stelle aus dem 1. Korintherbrief 11 zitiert, wonach der Mann Abbild und Abglanz Gottes, hingegen die Frau nur Abglanz des Mannes sei. Und unter Berufung auf diese Stelle wird immer wieder die Gottebenbildlichkeit der Frau in Abrede gestellt und als Grund für die Unfähigkeit der Frau zu sakralen und öffentlichen Ämtern angeführt. Dann hadere ich jedes Mal mit dieser Kirche und überlege mir, aus dieser auszutreten.  

Ich bin bis heute geblieben, denn es gibt die andere Kirche, die Seite an Seite mit mir für Benachteiligte, für Flüchtlinge, für Sans-Papiers einsteht. Zum Beispiel die katholische Kirche der Stadt Luzern. Sie leistet Entwicklungshilfe, sie hilft die aktuelle Not in Ländern des Südens lindern, sie unterstützt den fairen Handel und setzt sich für Bewusstseinsbildung ein, um die Ursachen der Ungerechtigkeit anzugehen. Sie unterstützt ganz konkrete Projekte im Bereich Migration/Integration wie den Chor der Nationen, den Treffpunkt Hello Welcome, den Flüchtlingstag, die «Kontakt- und Beratungsstelle für Sans-Papiers Luzern». Sie unterstützt die Frauenkirche Zentralschweiz, welche für befreiendes religiöses Denken, Handeln und Feiern inner- und ausserhalb landeskirchlicher Strukturen steht und für gläubige Frauen einen Raum bietet, ihre eigenen Vorstellungen über das Verhältnis des Göttlichen zu den Frauen zu entwickeln.

Soviel tolle Dinge tut «meine» Katholische Kirche der Stadt Luzern. Da ich mich versichert habe, dass meine Kirchensteuer nicht nach Chur oder Rom geht, sondern an diese Katholische Kirche der Stadt Luzern, bin ich immer noch Mitglied der Katholischen Kirche. Sie steht für mich für eine Kirche, die auffallend viele Parallelen zu meinem politischen Engagement aufweist.

Parallelen zwischen der Kirche und der Grünen Partei

Es gibt nämlich durchaus Parallelen zwischen Parteien und Kirchen. Beides sind Institutionen, die Menschen Werte vermitteln, die Sinn stiften, die Stellung nehmen zu gesellschaftspolitischen Fragen. Die Grundwerte der katholischen Kirche, die mich geprägt haben, sind auch die Grundwerte meiner Politik. Wenn wir in der Bibel zur Bewahrung der Schöpfung aufgerufen werden, heisst das in die Sprache der Politik übersetzt: Schutz der Umwelt und Nachhaltigkeit. Die Pflicht zur Bewahrung der Schöpfung ist eine Wurzel, aus der ich mein Engagement ableite: den Einsatz für eine lebenswerte Welt und zwar nicht nur für mich hier und heute in der Schweiz, sondern für alle Menschen auf diesem Planeten und auch für die kommenden Generationen. Ich finde den Gedanken unerträglich, dass wir uns unseren Lebensstil dank einer Energie leisten können, die für Generationen nach uns tödlich strahlende Abfälle hinterlässt. Ich finde den Gedanken unerträglich, dass wir mit unserem Lebensstil diesen Planeten so aufzuheizen, dass die kommenden Generationen durch Hitzewellen,Wirbelstürme und Überflutungen mit massiver Zerstörung und Tod bedroht sind, ohne dass ich dagegen etwas getan hätte, nämlich einerseits selber möglichst umweltgerecht zu leben und andererseits politisch immer wieder einzufordern, dass unser Handeln nachhaltig sein müsse. Wir können doch mit der Erde nicht so umgehen, als hätten wir noch eine zweite im Keller!

Meine religiöse Sozialisation hat mich auch gelehrt, dass vor Gott alle Menschen gleich seien, dass alles, was man dem geringsten seiner Brüder antue - von Schwestern sprach man damals noch nicht -, man Gott antue, und dass man seinen Nächsten lieben solle wie sich selbst. Die Kirche hat mit Jesus von Nazareth einen Menschen als Vorbild gegeben, der nicht auf der Seite der Habenden sondern auf jener der Habenichtse gewesen war und der all die Aussenseiter, die Geächteten und Verstossenen der Gesellschaft, in sein Herz geschlossen hatte.

Wenn ich das in die politische Sprache übersetze, heisst das nichts anderes, als dass alle Menschen eine unveräusserliche Würde haben, dass alle Menschen, ohne Ansehen der Herkunft, des Geschlechts, der Religion und Sprache, der sozialen Stellung, gleichwertig sind. Dieses Menschenbild der Gleichwertigkeit hat mich immer geleitet und mir den Mut gegeben, gegen das Schlechtmachen und Ausgrenzen von Flüchtlingen, Asylsuchenden, von Jüdinnen, Muslimen, Jenischen und Fahrenden, meine Stimme zu erheben.

Gleichheitsgebot in der Bundesverfassung

Das Menschenbild der Gleichwertigkeit bildet sich auch im Art. 8 der Bundesverfassung ab. Dieser lautet: 1 Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. 2 Niemand darf diskriminiert werden, namentlich nicht wegen der Herkunft, der Rasse, des Geschlechts, des Alters, der Sprache, der sozialen Stellung, der Lebensform, der religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugung oder wegen einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung.

Das heisst nichts anderes, als dass alle Menschen eine unantastbare Würde haben, dass alle Menschen, ohne Ansehen der Herkunft, des Geschlechtes, der Religion und Sprache, der sozialen Stellung, gleichwertig sind. Das heisst, dass man auch einem kriminell gewordenen Asylsuchenden die Nothilfe nicht verweigern darf, auch wenn einem dieser persönlich noch so unsympathisch ist. Die Unantastbarkeit der Menschenwürde drückt aus, dass man einem Menschen ein Minimum zum Überleben nicht vorenthalten darf, und zwar einfach auf Grund seines Menschseins. Das heisst auch, dass jeder kriminell gewordene Mensch ein Recht auf einen fairen Prozess hat und dass Ausschaffungen und lebenslange Verwahrungen verhältnismässig sein sollen. Das ist etwas vom schwierigsten, das es in der Politik zu vermitteln gilt: es geht nicht darum, ob mir jemand sympathisch ist oder nicht, ob er einheimischer oder ausländischer Herkunft ist, ob schwarz oder weiss, es geht darum, dass jeder Mensch verfassungsmässig garantierte Rechte hat. Alle demokratischen Rechtsstaaten gehen heute vom Prinzip der Gleichwertigkeit aller Menschen aus. Das ist eine der ganz grossen Errungenschaften der Zivilisation, die sich in den Verfassungen und Grundgesetzen vieler Staaten niederschlägt, eben auch in unserer Bundesverfassung

Schlussgedanken

Ich bin sicher, dass mir diese Haltung, für Gerechtigkeit und Solidarität einzustehen, nebst der Familie auch durch die Kirche mitgegeben worden ist. Aus dieser Haltung heraus war und ist es für mich geradezu eine Pflicht, meine Stimme zu erheben, wenn Menschen ungerecht behandelt werden. Es wäre manchmal bequemer, zu schweigen und sich weg zu ducken. Aber ich habe auch die Erfahrung gemacht, dass das Einstehen für das, was ich richtig halte, mir selber auch Energie und Kraft gibt.

Es wäre schön, wenn Sie mein Referat dazu anregt, selber darüber nachzudenken, wer Ihr Wertesystem, Ihr Menschenbild am meisten geprägt hat, und ob Sie selber von sich sagen können, dass Sie nach Ihrer Überzeugung leben und handeln, auch wenn es manchmal Mut dazu braucht.

Ich möchte schliessen mit einem Text von Pastor Martin Niemöller, der das Konzentrationslager Dachau überlebt hat. Es ist ein Text, den ich vor vielen Jahren einmal gelesen und seither nie mehr vergessen habe: «Zuerst kamen sie, um die Sozialisten zu holen. Ich sagte nichts, ich war ja kein Sozialist. Dann kamen sie, um die Gewerkschafter zu holen. Ich sagte nichts, ich war ja kein Gewerkschafter. Dann kamen sie, um die Juden zu holen. Ich sagte nichts, ich war ja kein Jude. Dann kamen sie, um mich zu holen. Und es war niemand mehr da, der etwas hätte sagen können.»

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