Diplomreferat FHS St. Gallen, Fachbereich Soziale Arbeit

Der Missbrauchsdiskurs und seine Folgen für die Soziale Arbeit

Referat an der Diplomfeier vom 27. September 2007 an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften, Fachbereich Soziale Arbeit, FHS St. Gallen, Rorschach

Mit der Wahl einer ehemaligen Politikerin als Referentin zu diesem für Sie wichtigen Anlass bestätigen Sie, dass Sozialarbeit den Bezug zur Politik nicht ausblenden darf. Das finde ich ganz wichtig und notwendig, weil sich die Sozialarbeit sonst den Vorwurf gefallen lassen müsste, nur Reparaturwerkstatt der Gesellschaft zu sein und an den strukturellen Ursachen sozialer Probleme nichts zu verändern. Dann wäre sie alles andere als nachhaltig!

Zitate aus dem Studienführer der FHS

Ein Blick in Ihren Studienführer hat mir bestätigt, dass Sie hier an der FHS St. Gallen das genau so sehen, schreibt doch darin Ihre Prorektorin, Frau Prof. Monika Wohler, Leiterin Fachbereich Soziale Arbeit: «Die heutige Gesellschaft verändert sich rasant und wirft zunehmend komplexe Fragen auf. Neue soziale Probleme entstehen, alte gewinnen wieder an Aktualität. Genau hier sind die Berufsleute der Sozialen Arbeit gefragt. Sie unterstützen Menschen, die von sozialen Problemen betroffen sind, sie gestalten soziale Räume und nehmen Einfluss auf sozialpolitische Rahmenbedingungen.»

Weiter habe ich darin die folgende Passage gefunden: «Wer Soziale Arbeit zu seinem Beruf macht, stellt den Menschen in den Mittelpunkt seiner Arbeit. Es gilt, Einzelne und Gruppen so zu unterstützen, dass sie ihren Alltag selbständig bewältigen können. Genauso wichtig ist es, vorzubeugen und gezielt Massnahmen zu ergreifen, wo soziale Benachteiligung droht. Wer in der Sozialen Arbeit tätig ist, setzt sich mit dem Verhältnis zwischen dem einzelnen Menschen und der Gesellschaft auseinander. Dazu gehören auch grundlegende Fragen der menschlichen Existenz. Gefragt sind heute Berufsleute, welche die unterschiedlichen Ursachen sozialer Probleme kennen und fähig sind, für aktuelle Fragen Lösungsansätze zu entwickeln. Sozialarbeit setzt beim einzelnen Menschen an und wirkt gleichzeitig auf politische und gesellschaftliche Rahmenbedingungen ein.»

Und was mich sehr gefreut hat, ist die folgende Passage im Studienführen: «Im gesamten Lehrangebot wird zudem Soziale Arbeit und Sozialpädagogik auf ihr Verhältnis zu Sozialpolitik sowie ihrem Umgang mit Geschlechterdifferenz befragt. Diese so genannten Querschnittthemen werden in der gesamten Ausbildung aufgegriffen und in Bezug auf ihre Relevanz für die Praxis bearbeitet. Als Studierende schärfen Sie während der Ausbildung Ihren Blick für das Zusammenspiel von Politik, Wirtschaft, Architektur und Kommunalentwicklung.»

Im Modul «Veränderungsprozesse in gesellschaftlichen Problemfeldern» steht, dass sich die Studierenden bei der Analyse aktueller gesellschaftlicher Problemfelder mit Macht- und Herrschaftsaspekten in der Sozialen Arbeit auseinandersetzen, dass sie lernen, Konflikte zu bearbeiten und in komplexen Situationen zu vermitteln und dass sie sich dabei auch mit Zuschreibungs- und Stigmatisierungsprozessen befassen.

Übersetzung auf Ihre zukünftige Arbeit hin

Nun habe ich genug zitiert und versuche das zu übersetzen, herunterzubrechen auf Ihr zukünftiges Tätigkeitsgebiet. Als Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter werden Ihre zukünftigen Arbeitsfelder Sozialdienste sein, Spitäler, Beratungsstellen und Einrichtungen für Kinder, Jugendliche, Familien, Erwachsene, Betagte und Menschen mit Behinderung, Erwerbslosigkeit, Institutionen und Projekte in spezifischen Problembereichen wie Sucht, Aids, Gewalt, Migration.

Arbeitsfelder für Sozialpädagoginnen und Sozialpädagogen werden Kinder- und Jugendheime sein, Schulen, Freizeiteinrichtungen, Einrichtungen im Straf- und Massnahmenvollzug, Einrichtungen für Menschen mit psychischen, geistigen oder körperlichen Behinderungen, Rehabilitationszentren für Menschen mit einer Suchtproblematik, Einrichtungen für obdachlose Menschen, für Flüchtlinge und Asyl Suchende, familiäre und ausserfamiliäre Erziehungshilfe.

So werden Sie sowohl als Sozialarbeiterinnen wie auch als Sozialpädagogen ganz direkt mit den Verwerfungen und Umbrüchen der Gesellschaft konfrontiert werden. Sie sitzen im Auge des Taifuns sozusagen, denn Sie werden in Ihrer neuen beruflichen Funktion Klientinnen und Klienten gegenüber sitzen, die Betroffene, die Opfer solcher Verwerfungen und Umbrüche sind.

  • Wenn Manager Unternehmen umbauen und im globalen Markt kaufen und verkaufen, um den Börsenwert zu steigern und wenn dabei mit dem Personal wie mit Spielbällen umgegangen wird, werden die vom umgebauten, schlanken Unternehmen «abgebauten» Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer Ihnen vielleicht einmal als Erwerbsarbeitlose in einem RAF gegenübersitzen.
  • Oder wenn ein Ehemann seine Frau mit der Armeewaffe bedroht, weil sie eine andere Vorstellungen von Rollenteilung zwischen Männern und Frauen hat und ihn deshalb verlassen will, wird sie Ihnen möglicherweise im Frauenhaus als Klientin gegenüber sitzen.
  • Oder wenn der Diskurs über die «Ausländerkriminalität» oder über den Missbrauch unserer Sozialwerke durch Ausländer wieder einmal hochgefahren wird, werden Sie als Sozialpädagoginnen vielleicht mit Jugendlichen konfrontiert, die sich, nach nationaler Zugehörigkeit auseinanderdividiert, unversöhnlich gegenüberstehen.
  • Oder wenn durch Minarett- und Kopftuchgeschichten der Islamdiskurs wieder einmal hohe emotionale Wellen wirft, werden Sie als Sozialpädagogen es vielleicht mit Jugendlichen zu tun haben, die glauben, der Kampf der Kulturen sei unvermeidlich und der Islam grundsätzlich inkompatibel mit unserer Gesellschaftsordnung.
  • Oder wenn infolge der Klimaerwärmung Flutkatastrophen halbe Kontinente unter Wasser setzen oder wenn korrupte Regimes ihre Landsleute aushungern und mit Terror überziehen, dann werden Ihnen die Opfer vielleicht eines Tages als Flüchtlinge oder «Sanspapiers» in der Beratungsstelle gegenüber sitzen.

Diese Liste liesse sich beliebig verlängern, sie zeigt schlaglichtartig, dass die Verwerfungen und Umbrüche, mit deren Folgen Sie als sozial Tätige konfrontiert sein werden, nicht nur lokaler, sondern auch globaler Natur sind.

Der Missbrauchsdiskurs und seine Folgen für die Betroffenen

Noch etwas zeigen die Beispiele: solche Verwerfungen und Umbrüche sind nicht Naturphänomene, sie fallen nicht vom Himmel, sondern sie sind von Menschen gemacht, sie spielen sich nicht im Niemandsland ab und ihre Bewältigung ist abhängig vom Menschenbild der Akteure. Damit komme ich zum Hauptgedanken meines Referates: Wie die Gesellschaft auf veränderte Situationen und Umbrüche reagiert, wird durch den politischen Diskurs beeinflusst und dieser ist seit mehr als einem Jahrzehnt auf Missbrauch eingestellt.

Gleich vorweg: damit ich nicht in die Ecke der blauäugigen Naiven gestellt werden kann, möchte ich sagen, dass ich Missbrauch keineswegs gut heisse und selbstverständlich der Meinung bin, dass mit den öffentlichen Geldern sorgfältig umgegangen werden muss und dass sich niemand, der in einer sozialen Institution tätig ist, von Klienten und Klientinnen auf der Nase herumtanzen lassen muss. Was wir aber jetzt erleben, ist in seiner Verkürzung und Versimpelung ein Missbrauch des Missbrauchsthemas, dass eine vernünftige Diskussion praktisch verunmöglicht. Und es lohnt sich, die Frage zu stellen, was die Absicht hinter der Thematisierung des Missbrauchs ist. Wenn es tatsächlich um Sorgfalt und die Einhaltung des Rechts geht, kann ja kein vernünftiger Mensch dagegen sein. Wenn es aber darum geht, ganze Gruppen in ein schiefes Licht und unter Missbrauchsverdacht zu stellen, dann muss man hellhörig werden und sich fragen, was die Absicht hinter dem Missbrauchsdiskurs ist. Meine These: es geht dabei um einen generellen Angriff auf den Sozialstaat, der heruntergefahren werden soll. Diese Entwicklung geht mit einer generell feststellbaren Entsolidarisierung einher, die ideologische Hintergründe hat. Auf die komme ich noch zu sprechen.

Zuerst möchte ich aber noch kurz auf die verschiedenen Phasen des Missbrauchdiskurses zurückblenden:

Er begann im Asylbereich mit der Folge, dass letztes Jahr das Asylgesetz so verschärft worden ist, dass die, die aus den oben erwähnten Gründen fliehen, gar nicht mehr ins Asylverfahren gelangen können und Ihnen deshalb wahrscheinlich gar nie mehr gegenüber sitzen werden. Da Asylsuchende nur noch Nothilfe erhalten, können sie gar nicht mehr ins soziale Netz hineingelangen, höchstens noch in eine Notschlafstelle. Obwohl weltweit die Anzahl der Flüchtlinge steigt, sind bei uns die Zahlen drastisch gesunken, sie haben sich in den letzen drei Jahren von über 20 000 auf 10 000 halbiert.

Dann folgte der IV-Bereich mit der Folge, dass der Zugang zur Invaliden-Versicherung massiv erschwert wurde. Am 19.09.2007 stand in den Zeitungen, dass die IV im ersten Semester 2007 9'300 Neurenten zugesprochen habe gegenüber 9'800 im ersten Semester 2006. Das ist ein minus von 4% innerhalb eines Jahres. Gegenüber dem ersten Semester 2003 mit 14’500 Neurenten bedeutet das einen Rückgang von über 35%. Es gibt in Leserbriefen und Zeitschriften immer wieder Berichte von Betroffenen, dass ihnen bisher selbstverständliche Leistungen gekürzt würden und dass es viel schwieriger geworden sei, trotz Arbeitsunfähigkeit eine IV-Rente zu erhalten. Auch hier hat der Missbrauchsdiskurs dazu geführt, dass nicht einfach stossende Missbrauchsfälle verhindert worden sind, sondern der Zugang zu diesem sozialen Netz einfach generell erschwert worden ist.

Zurzeit ist die Sozialhilfe im Visier. Seit einigen Monaten vergeht keine Woche, ohne dass ein Sozialhilfeempfänger oder eine Sozialhilfeempfängerin des Missbrauchs bezichtigt und der Fall von den Medien hochgefahren und von der Politik ausgeschlachtet wird. Eine ganz unrühmliche Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Weltwoche. Nach einem wochenlangen Sperrfeuer gegen die Zürcher Sozialdirektion verlangte sie in der Ausgabe vom 23. August 2007 in einem äusserst polemischen Artikel «das Ende der Vollkasko-Mentalität» und bezeichnet den Berufsstand der sozial Engagierten als «durchseucht von Dogmen, Tabus und Vorurteilen» und es zähle nicht was sei, sondern wie es sein sollte. «Kritik wird leichthin als Angriff gegen die Institution der Fürsorge abgeblockt, wer die Doktrin der Experten in Frage stellt, als ignorant verhöhnt. Die Studien, die die Branche in barocker Fülle produziert, besagen oft mehr über die Geisteshaltung der Autoren als über die Realität; Fakten werden zurechtgebogen, der vermeintliche Zweck heiligt die Mittel: die durch ihr Leiden geläuterten Bedürftigen sollen vor der Missgunst einer vermeintlich egoistischen Bevölkerung geschützt werden.» Interessant ist, dass die Weltwoche von Fürsorge spricht und nicht von Sozialhilfe und dass sie zurück will in die Steinzeit des Sozialwesens mit Forderungen nach Leistungsbeschränkungen auf das Lebensnotwendige, nach Selbstbehalten, nach Nothilfe, nach 10-jährigen Karenzfristen für Migrantinnen und Migranten, nach Einbürgerungs- und Niederlassungsverweigerung für Sozialhilfebezüger, nach Kürzungen für Langzeitbezügerinnen und -Bezüger, nach obligatorischen Arbeitseinsätzen, nach unangemeldeten Hausbesuchen und Stichproben auch ohne Verdacht auf Missbrauch und dergleichen mehr. Der Sozialhilfebezüger nach Lesart der Weltwoche ist selber schuld an seiner Misere und soll mit Druck und Kontrolle geknechtet werden, dass es ihm verleidet.

Meine Befürchtung von damals, es beginne zwar mit der Zielgruppe Ausländer und Asylsuchende, die ins Visier gerate, es könne aber alle Randständigen treffen, auch einheimische, hat sich voll bestätigt. Ein erschütternder Bericht im Beobachter vor ein paar Wochen hat eindrücklich gezeigt, wie Menschen gesellschaftlich unter Druck geraten, ganz einfach weil sie Sozialhilfe beanspruchen und deshalb unter generellem Missbrauchverdacht stehen. So gesellt sich für die Betroffenen zur ohnehin schwierigen Bewältigung der Umstände, die zur Sozialhilfe geführt haben, wegen des Missbrauchsdiskurses heute noch die soziale Kälte, mit der sie von der Umwelt behandelt werden. Das ist nichts anderes, als das, was mit Zuschreibungs- und Stigmatisierungsprozessen gemeint ist, wie es in Ihrem Studienführer heisst, den ich vorhin zitiert habe.

Damit wird der Diskurs, das Reden über soziale Probleme, selbst zum Problem, weil er bestehende Probleme verschärft und gute Lösungen erschwert oder gar verunmöglicht.

Die Absicht hinter dem Diskurs

Vor welchem Hintergrund ist dieser Missbrauchsdiskurs einzuordnen? Weltweit hat sich seit den 90er Jahren eine Entwicklung eingestellt, die mit Neoliberalismus umschrieben wird. Das Credo der neoliberalen Ideologen lautet, dass der Markt alles regle, wenn man ihm nur alle Zügel und vor allem alle staatlichen Fesseln ablege. Der Glaube an den Markt hat fast religiöse Züge angenommen und obwohl die negativen Auswirkungen bekannt sind, wird dieses Credo immer noch fast hirnwäscheartig wiederholt. Die Folge davon ist, dass die Ökonomisierung alles und jedes durchdrungen hat, so dass jedes menschliche Tun und jede Beziehung auf die Frage reduziert wird: was kostet es mich und was bringt es mir?

Lassen Sie mich ein paar Folgen dieser Entfesselung des Marktes im Zuge des Neoliberalismus der 1990er Jahre aufzeigen:

  • In den letzten Jahren verzeichneten die psychiatrischen Kliniken eine Zunahme depressiver Patientinnen von fast 100 Prozent, das Risiko für einen jungen Menschen, an einer Depression zu erkranken, hat sich seit den Achtzigerjahren beinahe verdoppelt. Viele Menschen sind überfordert mit den steigenden Anforderungen im Beruf und der gleichzeitigen Auflösung von vertrauten Strukturen und geraten in einen Dauerstress. Insbesondere die gesellschaftliche Entwicklung der 90er Jahre liess die Zahl der Erkrankten sprunghaft empor schnellen, so dass viele Fachleute von einer Zeitkrankheit mit epidemischem Charakter sprechen. 150 000 im Erwerbsleben stehende Menschen pro Jahr werden von einem Depressionsschub heimgesucht und sind in dieser Zeit völlig arbeitsunfähig. Gleichzeitig rühmt sich die IV, dass die Zahl der neuen Fälle zurückgegangen sei und dass das Ziel eine weitere massive Reduktion der IV-Fälle sein müsse. Was ist jetzt hier der Missbrauch?
  • Die Sozialhilfeausgaben haben sich in der Schweiz von 1990 bis 2000 verdreifacht und die Anzahl der Sozialhilfeempfänger und -empfängerinnen hat sich im gleichen Zeitraum verdoppelt. Im Jahr 2005 betrugen die Ausgaben für die Sozialwerke 100 Milliarden Franken. Eine im März 2006 vorgestellte Studie kam zum Schluss, dass diese auf 143 Milliarden bis im Jahr 2030 anwachsen werden, was einer Zunahme von 43 Prozent entspricht. Die Sozialausgaben werden also voraussichtlich bis zum Jahr 2030 einen Viertel des Bruttoinlandproduktes ausmachen. Sie werden, laut dieser Studie, rascher wachsen als die Wirtschaft. Betreiben wohl alle, die davon Gebrauch machen werden müssen, Missbrauch?
  • In der Stadt Luzern werden 124 Personen vom Sozialamt unterstützt, obwohl sie mindestens 36 Wochenstunden arbeiten. 42 dieser Fälle sind Alleinerziehende. Kinder sind eines der grössten Armutsrisiken geworden! Diese sogenannten working poors machen 15% aller Sozialhilfe-Bezügerinnen in der Stadt Luzern aus. Wer betreibt hier Missbrauch?

Auch diese Liste liesse sich beliebig verlängern und sie zeigt ebenfalls schlaglichtartig den Zusammenhang zwischen der Politik und der Sozialarbeit auf.

Die zwei Möglichkeiten zu reagieren für Sozial Tätige

Und nun sind Sie als Sozial Tätige eben mitten drin im seismografischen Zentrum solcher Erschütterungen und können zwei Dinge tun: Sie können Ihre Klientinnen und Klienten als Einzelfälle nach bestem Wissen und Gewissen und nach dem Buchstaben der geltenden Gesetze und Verordnungen beraten und nach getaner Arbeit nach Hause gehen. Wahrscheinlich brauchen Sie, um das Erlebte auszuhalten, irgendeine Methode der Regeneration, dazu gibt es ja einen blühenden Markt von Selbsterfahrungs- und Wellnessangeboten. Dies ist auch ein Indiz über den Zustand unserer Gesellschaft, wenn Parteien und Nonprofit-Organisationen Nachwuchsprobleme haben und gleichzeitig die Wellness-, die Selbsterfahrungs- und die Supervisionsbranche boomt!

Das zweite, was Sie tun können, ist die Erfahrungen, die Sie mit den Einzelfällen sammeln, dazu nutzen, die strukturellen Ursachen hinter den Einzelschicksalen zu sehen und zu thematisieren - und das ist hochpolitisch!

Um bei einigen der Beispiele von vorher zu bleiben:

  • Sie können Erwerbsarbeitslose als Einzelfälle professionell beraten und zu deren Recht verhelfen. Sie können aber durch Einflussnahme auf die Politik - in drei Wochen sind Wahlen – mit Ihrem Wahlzettel dafür sorgen, dass in Zukunft ein Parlament in Bern tätig ist, das dafür schaut, dass Erwerbslose nicht Almosenempfänger werden, sondern dass die Arbeitslosenversicherung eine soziale Versicherung bleibt, die diesen Namen verdient und Entlassenen weiterhin ein menschenwürdiges Leben ermöglicht.
  • Sie können die vom Ehemann bedrohte Frau beraten und ihr zum Aufbau eines neuen Lebens verhelfen. Sie können sich aber auch für die letzte Woche lancierte Initiative «Für den Schutz vor Waffengewalt» engagieren, welche verlangt, dass die Armeewaffen nicht mehr nach hause mitgenommen werden können und dass der Zugang zu Waffen generell erschwert wird.
  • Sie können die wenigen Flüchtlinge, die noch in ein Asylverfahren gelangen oder Ihnen in der Notschlafstelle begegnen, professionell beraten und betreuen und im weiteren verdrängen, dass im Mittelmeer Hunderte von Menschen auf der Flucht ertrinken. Sie können sich aber auch im Solidaritätsnetz Ostschweiz engagieren, weil es Ihnen wichtig ist, dass die humanitäre Schweiz nicht zu einem der härtesten Ländern gegenüber Flüchtlingen verkommt.

Das Rüstzeug zum professionellen Umgang mit Ihren zukünftigen Klientinnen und Klienten hat Ihnen die Fachhochschule St. Gallen mit Sicherheit geliefert. Das Rüstzeug zum politischen Handeln, hoffe ich, sei Ihnen als genau so wichtig mitgegeben worden. Die Aussage in Ihrem Studienführer «Im gesamten Lehrangebot wird Soziale Arbeit und Sozialpädagogik auf ihr Verhältnis zu Sozialpolitik befragt» lässt eigentlich fast keinen andern Schluss zu. Ich kann mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass Sie über Erwerbslosigkeit, Armut, soziale Integration und Desintegration, Behinderung, Straffälligkeit Krankheit, Sucht oder Misshandlung Gewalt, soziale Ungleichheit nachgedacht haben, ohne den Bezug zur Politik zu machen.

Mein Schlussappell: Einmischen!

Wenn Sie zum Schluss kommen, dass meine These stimme, es gehe beim Missbrauchsdiskurs um viel mehr als das Bekämpfen von tatsächlichem Missbrauch, sondern um einen Angriff auf das soziale Netz insgesamt und wenn Sie feststellen, dass dies zu Ungunsten Ihrer Klientinnen und Klienten ist, dann meine ich, müssten Sie sich einmischen. Deshalb ist mein Schlussplädoyer an Sie, liebe Diplomandinnen und Diplomanden, ein Aufruf für ein leidenschaftliches sich Einmischen in die res publica, in die öffentliche Sache! Ob Sie das im Rahmen Ihrer zukünftigen Institution oder als Mitglied eines Berufsverbandes oder einer Partei tun, ist unwichtig, aber tun Sie es!

Sie als gut ausgebildete Leute mit diesem beruflichen Erfahrungshintergrund als sozial Tätige sind dazu geradezu prädestiniert! Sie sitzen im Auge des Taifuns, ich kann das nur wiederholen! Wer sonst erlebt die sozialen Verwerfungen so eins zu eins wie Sie? Ich finde, man höre im aufgeregten Missbrauchsdiskurs zu wenig Stimmen aus ihrem Berufsfeld! Verbände, Ausbildungsinstitute wie das Ihre vermisse ich, wenn es darum geht, die Dinge wieder in ein anders Licht zu rücken, die Proportionen zu wahren. Ich vermisse die Stimmen sozial Tätiger und ihrer Interessenvertreter – Verbände, Institutionen, Ausbildungsstätten – die wieder einmal an so altmodisch gewordene Werte wie Solidarität und Gerechtigkeit erinnern, an Menschenwürde, die alle Menschen haben, ganz einfach, weil sie Menschen sind, ob sie uns sympathisch sind oder nicht.

Es gibt ja da diesen wunderschönen Satz «Die Würde des Menschen ist unteilbar», den kennen Sie bestimmt! Ich wünsche mir mehr Stimmen aus Ihrem Umfeld die an das Menschenbild der Gleichwertigkeit aller Menschen erinnern. Ich wünsche mir mehr Leute, die nicht Angst haben, als Gutmenschen belächelt zu werden, sondern die stolz auf dieses Label sind, weil sie wissen, dass das Gegenteil von Gutmensch gar nicht geht, dass schlechte Menschen in der Geschichte und Gegenwart – in Burma zum Beispiel – immer wieder bewiesen haben, dass sie die Zivilisation an den Rand des Abgrunds führten. Sich für die Menschrechte einzusetzen hat nichts mit Kitsch oder romantischer Naivität zu tun, sondern beweist ganz einfach, dass man aus der Geschichte gelernt hat. Es wäre schön, Sie als Verbündete auf dem Weg zur Utopie einer gerechten Welt zu haben! Ich finde wir seien zu wenige auf diesem Weg und wir seien zu leise!

Ich wünsche Ihnen von Herzen alles Gute für Ihre Zukunft und danke der Schulleitung für die Einladung und Ihnen allen für die Aufmerksamkeit, mit der Sie mir zugehört haben.

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