Diplomfeier HfH Zürich

Drei Wünsche und ein Appell

Rede an der Diplomfeier der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik Zürich, 27. März 2019

Sehr geehrte DiplomandInnen, Angehörige und Gäste, liebe Frau Koch! Ich möchte Sie meinerseits herzlich begrüssen und mich bei Ihrer Hochschule für die Einladung zu dieser Diplomrede bedanken.

Die Anfrage Ihrer Studiengangleiterin Christina Koch für diese Rede fiel in die Zeit, in der ich gerade den Dokumentarfilm über Julia Häusermann, die Schauspielerin mit Down-Syndrom gesehen hatte und der mich nachhaltig beschäftigte: Einerseits gab er mir einen nahen und ungeschönten Einblick in das Leben einer Frau mit einer Behinderung, den ich ohne diesen Dok-Film nie erhalten hätte. Andererseits fühlte ich mich als Voyeuristin, wenn ich Anteil am Leben der ganz privaten Julia mit all ihren intimen Fragen zu Liebe und Schwangerschaft hatte. Immer wieder stellte ich mir die Frage, ob es richtig sei, dass der Film so nahe an diese Person herangehe - und ich als Zuschauerin ging mit - und das ja nur, weil sie sogenannt nicht „normal“ sei. Ich hätte Julia Häusermann auch hin und wieder am liebsten vor sich und ihrer grenzenlosen Offenheit vor der Kamera schützen wollen - und dann freute ich mich wieder über ihre überbordende Lebenslust und Witzigkeit. Sie sehen, eine Ambivalenz nach der andern, hin und hergerissen zwischen Bewunderung und Irritation, so liess mich dieser Film zurück.

Aber das ist für Sie wahrscheinlich ganz anders, Sie können das alles sicher viel cooler nehmen, besser einordnen, denn der Umgang mit Menschen wie Julia Häusermann ist für Sie tägliches Brot. Oder täusche ich mich da vielleicht? Ist diese Auseinandersetzung auch für Sie immer wieder präsent? Und haben Sie sich vielleicht auch die Frage gestellt, wie es wäre, wenn der Film nicht die sympathische Down-Syndrom-Frau sondern einen stark entstellten Menschen zeigen würde? Fände sich überhaupt ein Regisseur dafür und wäre das uns Zuschauenden zumutbar?

Meine persönliche Erfahrung zum Thema

Mein Partner hatte einen Bruder mit einer geistigen Behinderung, er hiess Meinrad. Er wuchs in einem Dorf auf, er kannte alle Leute und alle kannten ihn. Er sass oft stundelang auf einer Brücke, um den Autos zuzuschauen, die ihn enorm faszinierten. Von Zahlen hatte er keine Ahnung, aber die Schweizer Pässe kannte er alle. Er hatte eine Stelle im Nachbarsort bei Ottos Warenposten. Meinrad war sehr stolz darauf und wenn er von seiner Arbeit erzählte, hätte man glauben können, er sei der Chef des Ladens. Die Wochenenden verbrachte er abwechselnd bei einem seiner fünf Geschwister. Ich habe mir oft gedacht, dass Meinrad ein glücklicher Mensch sei: eingebettet in eine grosse Familie, die ihn liebte, ihm die Sorgen abnahm und gut betreute. Ich habe ihn in all den Jahren bis zu seinem Tod selten schlecht gelaunt, traurig oder wütend gesehen, ein geglücktes Leben, mit oder trotz Behinderung.

Meine berufliche Erfahrung zum Thema

Damit Sie sich eine Vorstellung machen können, wo es Schnittmengen mit Ihrer und meiner beruflichen Erfahrung gibt, ein kurzer Blick zurück: mein Erstberuf war Primarlehrerin, die meiste Zeit arbeitete ich in einer Auffangklasse für Kinder von neu eingewanderte Familien. Damals in den 70er Jahren gab es eine Debatte über Integration oder Sonderklassen für solche Kinder. Selbstverständlich kämpften wir Pionierinnen in der Schulung der fremdsprachigen Kinder für integrative Schulmodelle, Spezialklassen akzeptieren wir nur als kurzfristige Übergangslösung.

Kinder mit einer körperlichen oder geistigen Beeinträchtigung gingen damals selbstverständlich in Sonderklassen und Sonderschulen. Näher in Berührung mit dem Thema kam ich dann in meiner darauffolgenden Tätigkeit als Schulberaterin für Migranteneltern. Ich erinnere mich an den heftigen Widerstand von Eltern, wenn die Frage einer Überweisung in eine Sonderschule im Raum stand. Sie vermuteten darin eine Diskriminierung, die man ihren Kindern nur antue, weil sie Ausländer seien. Ich war an diesen Gesprächen als Übersetzerin und Beraterin dabei und hatte nicht selten den Eindruck, dass der Wechsel in eine Sonderklasse zwar nicht bewusst aus diskriminierenden Gründen vorgeschlagen wurde, dass er aber für die betroffenen Kinder nicht der richtige Weg war. Mangelnde Förderung zu Hause und Sprachdefizite in der Unterrichtssprache durften doch nicht der Grund für eine Einweisung in eine Sonderklasse sein! Aber die Schulen hatten damals kein adäquates Angebot für diese Art von Problemen.

Fortschritte

Ich bin sicher, dass das heute ganz anders ist, denn die Diagnoseinstrumente und die Palette der schulischen Lösungen hat sich seither massiv verbessert. Die Debatte über Integration und Inklusion geht heute nicht mehr vor allem der Linie zwischen eingewanderten und einheimischen Kindern entlang, sondern sie umfasst aktuell vermehrt die Kinder mit Behinderung. Politisch sind die Weichen mit dem im Jahr 2002 in Kraft gesetzten Behindertengleichstellungsgesetz, BehiG, in Richtung Integration in die Regelschule gestellt. Dagegen gibt es immer mal noch grundsätzlichen Einspruch. Stellvertretend zitiere ich aus einem Leserbrief, der im Februar in der NZZ erschien: „Behinderte und verhaltensauffällige Schüler brauchen einen speziellen, kontinuierlichen Unterricht in Klassen mit konstanten Bezugspersonen. Das wird weder durch Heilpädagogen light noch durch schulische Heilpädagogen erfüllt, welche Kinder sporadisch aus den Klassen entfernen und sie nur stundenweise fördern. Nur Separation führt zu echter Integration.“ Der Verfasser heisst Peter Schmid, er war Nationalratskollege von mir und langjähriger Dozent am Heilpädagogischen Seminar Zürich, der Vorläuferinstitution dieser Hochschule.

Im Tagesanzeiger-Magazin vom 2. März schreibt die Lehrerin Anna Pfeifer folgendes: „Emilia müht sich immer noch mit der schriftlichen Division ab. Davids Schrift hat sich trotz der Grafomotoriktherapie kaum verbessert. Lars kann nicht länger als fünf Minuten stillsitzen, man müsste ihn dringend auf ADHS abklären lassen. Und Vera beginnt in letzter Zeit immer gleich zu heulen, wenn ihr etwas nicht gelingt. Geringe Frustrationstoleranz. Wahrscheinlich wegen der Trennung ihrer Eltern. Und hast du gemerkt, wie aufmüpfig Thomas ist, seit er wegen Hochbegabung abgeklärt wird.“ Anna Pfeifer fährt dann fort, dass es so oder ähnlich töne an der wöchentlichen Sitzung mit der Heilpädagogin. Diese neue Berufsgattung sei die Folge des vor einigen Jahren eingeführten integrativen Schulmodells. Anna Pfeifer findet die Idee zwar nobel, aber nicht durchdacht. Sie trifft damit wohl eher den Nerv der Zeit, denn der Grundsatz, Menschen mit Behinderung für ein Leben in eine inklusive Gesellschaft durch schulische Integration vorzubereiten, ist inzwischen breit akzeptiert. Die Kritik entzündet sich meistens an der Umsetzung. Wieviel Integration und wieviel Separation, das ist schliesslich keine mathematische Frage und es gibt kein Modell, das nur Vorteile hat. Es ist die permanente Auseinandersetzung um die Frage der bestmöglichen Förderung aller Kinder, mit oder ohne Einschränkungen, welcher sich die Schulen stellen müssen.

Und Sie, liebe Diplomandinnen und Diplomanden, sind da mittendrin und hoffentlich Teil dieser Debatte. Denn wer ist kompetenter, dazu etwas zu sagen, als Sie mit Ihrer täglichen Erfahrung und mit Ihrer fundierten Ausbildung? Im Leitbild Ihrer Schule steht ja auch das Bekenntnis, Einfluss auf die Gestaltung der heilpädagogischen Berufsfelder, auf den ethischen und wissenschaftlichen Diskurs, sowie auf die öffentliche und politische Meinungsbildung nehmen zu wollen. Darauf sind Sie als AbsolventInnen dieser Ausbildung nun bestens vorbereitet! Sie wissen sehr genau, wovon wir hier reden. Sie begleiten in Ihrem Berufsalltag Menschen mit Schulschwierigkeiten, Menschen mit geistiger Behinderung, Schwerhörige und Gehörlose, Sehbehinderte und Blinde, Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderung. Sie haben sich nicht der Welt der Schönen und Erfolgreichen verschrieben, sondern denen, die unter erschwerten Bedingungen das Leben meistern müssen. Ich zitiere noch einmal aus Ihrem Leitbild: „Unser Ziel ist es insbesondere, die Lebensqualität für Menschen mit Behinderung zu fördern.“ Darunter verstehen Sie laut Leitbild die Erfüllung menschlicher Grundbedürfnisse, die Teilhabe an Gesellschaft und Kultur, Autonomie und Emanzipation.

Sie alle, 113 Personen, 99 Frauen und 14 Männer, haben sich für diese anspruchsvolle Ausbildung entschieden, für die Sie heute Ihr Diplom erhalten. 104 von Ihnen haben die Ausbildung berufsbegleitend gemacht, das ist eine gewaltige Leistung. Ihr Altersdurchschnitt beträgt 39 Jahre, wie ich von Frau Koch erfahren habe. Sie haben also noch eine durchschnittliche Amtsdauer von 25 Jahren vor sich. Wahrscheinlich ist jedoch, dass dann das Rentenalter höher sein wird als heute. Auf jeden Fall lohnt es sich, mit der Perspektive eines Vierteljahrhunderts, sich über die Arbeit mit den Kindern hinaus im beruflichen Umfeld zu engagieren. Denn nur so verändern sich die Verhältnisse.

Disruption

Und gestatten Sie mir, dass ich als ehemalige Politikerin ein Plädoyer fürs Einmischen und Stellung nehmen generell mache! Wir leben ja in einer verrückten Welt, in der es immer schwieriger wird, den Boden unter den Füssen nicht zu verlieren. Es geht ein Wort um in letzter Zeit, das dafür steht: Disruption. Auf Deutsch ist es am ehesten mit Verwerfung zu übersetzen. Bei Disruptionen geht es nicht um schöne, harmonische Veränderungen, sondern um brachiale, um Verwerfungen eben.

Was sind denn die Verwerfungen der neuesten Zeit? Es ist das Revival autoritärer Männer an wichtigen Schalthebeln der Politik, - USA, Türkei, Osteuropa, Brasilien, Philippinen. Eine Disruption, die Europa erschüttert, ist der Brexit: Grossbritannien hat mit dem Austrittsentscheid aus der Europäischen Union sich und die EU in eine grosse Krise gestürzt, ein Ende ist nicht absehbar. In Syrien geht der Krieg mit einer halben Million Toten und fünf Millionen Flüchtlingen bereits ins achte Jahr und es zeichnet sich kein gutes Ende ab: Baschar Al Assad bleibt aller Wahrscheinlichkeit nach an der Macht. Europa hat sich dem diktatorischen Präsidenten Erdogan angedient, damit dieser uns die Flüchtlinge vom Hals hält. Und das Mittelmeer ist Massengrab für viele junge, ambitionierte Menschen, die aus Armut, Not und Perspektivlosigkeit ihre Heimat verlassen haben in der Hoffnung auf ein besseres Leben in Europa. Nationalistische, rassistische Parteien und Gruppierungen erstarken weltweit, selbst das idyllische Neuseeland wurde gerade Schauplatz eines rassistischen Hassverbrechens gegen Muslime. Und dann gerät auch noch das Klima ausser Rand und Band, mit der Folge von Überschwemmungen wie gerade in Mocambique, oder mit Hitzewellen und schmelzenden Gletscher wie letzten Sommer bei uns. Aber da ist auch der grosse Hoffnungsschimmer; die streikenden Klimajugendlichen, die machen mir richtig Mut und meinen Kolleginnen und Kollegen in der Politik hoffentlich Beine! Und da ist eine Ministerpräsidentin aus Neuseeland, Jacinda Ardern die einem wieder den Glauben zurückgibt, dass es möglich ist, gut und integer zu regieren!

Folgen für Ihre Arbeit

Warum zeichne ich Ihnen dieses relativ düstere Bild der Welt? Weil es mit ihrer Arbeit zu tun hat und zwar in zweifacher Hinsicht. Wer nicht fit, mobil und belastbar genug um diese schnellen disruptiven Veränderungen mitzumachen, gerät immer mehr unter die Räder - zum Beispiel die Menschen, mit denen Sie es zu tun haben.

Eine andere Auswirkung ist, dass in einer solch instabilen Zeit die Menschen nicht offener und veränderungswilliger werden. Parteien, die den Menschen versprechen, dass alles besser werde, wenn man sich abschotte und nur für sich selber schaue, haben Zulauf. Switzerland first! Das tönt dann etwa so: keine fremden Richter, keine Flüchtlinge, keine Entwicklungszusammenarbeit, keine Kohäsionsmilliarde, keine Personenfreizügigkeit.

Und man schaut eifrig darauf, dass ja niemand Unterstützung bekommt, der es nicht verdient. Die Missbrauchsdebatten der letzten Jahre haben ihre Spuren hinterlassen. Die Sozialhilfe, die Ergänzungsleistungen und die IV sind massiv unter Druck, das spüren Sie bestimmt in Ihrer Arbeit. Es gibt PolitikerInnen, für die es wichtiger ist, zu sagen, um wie viele Millionen sie die IV entlastet haben als zu fragen, was es mit kranken und behinderten Menschen macht, die immer wieder beweisen müssen, dass sie tatsächlich nicht in der Lage sind, ihren Lebensunterhalt selber zu verdienen. In die gleiche Logik passt die in dieser Session beschlossene Kürzung der Rente für Kinder von behinderten Eltern.

Dieser Druck auf die IV hat ganz konkrete Folgen: Eltern von behinderten Kindern, müssen mühsam für einen grösseren Rollstuhl oder für eine notwendige Therapie kämpfen. Wer eine IV-Leistung in Anspruch nimmt, steht fast unter Generalverdacht, die IV ausnützen oder betrügen zu wollen und der administrative Dschungel, durch den man sich immer mehr schlagen muss, um zu seinem Recht zu kommen, bedingt von den Eltern fast Profikenntnisse des IV-Rechts.

Von Heilpädagoginnen in meinem Umfeld habe ich gehört, dass sie immer mehr dokumentieren müssen, was sie tun, um ja zu beweisen, wie effizient und wirksam sie Zeit und Geld einsetzen. Verstehen Sie mich nicht falsch, ich habe nichts gegen professionelles und wirksames Arbeiten. Aber auf die Spitze getriebene Effizienz und Tempo stehen im Widerspruch zu den Bedürfnissen und Fähigkeiten von Menschen mit Behinderung. Ihre Arbeit lässt sich einfach nicht beliebig beschleunigen, ohne dass dabei Menschlichkeit, Zuwendung, Respekt auf der Strecke bleiben. Deshalb mein Appell an Sie: Halten Sie Widerrede gegen die pauschale Verunglimpfung der Schwächsten in der Gesellschaft. Halten Sie Widerrede gegen die Rede vom Missbrauch! Und wenn Sie nicht einverstanden sind mit dem Leistungsabbau in den Sozialversicherungen, wehren Sie sich!

Aus eigener Erfahrung kann ich Ihnen sagen, dass ein solches Engagement auch eine Art der Verarbeitung ist, um all die Disruptionen um sich herum auszuhalten. So können Sie sich in den Spiegel schauen und sagen: ich habe versucht, Errungenes zu verteidigen und die Verhältnisse zu verbessern!

Ich wünsche Ihnen zum Schluss drei Dinge:

  1. viel Freude und Anerkennung in Ihrer täglichen Arbeit
  2. viel Energie und Mut fürs Einmischen und Hinstehen
  3. eine gute Mischung aus nötiger dicker Haut und hoher Sensibilität!

Herzliche Gratulation zu Ihrem Diplom! Geniessen Sie diesen Moment und diesen Tag, er ist einmalig!

Zurück