Diplomfeier an der Hochschule für Soziale Arbeit, FHNW Olten

Soziale Arbeit: Reparaturwerkstatt in einer durchökonomisierten Welt?

Referat an der Diplomfeier vom 24. März 2006 an der Hochschule für Soziale Arbeit, FHNW Olten

Ich weiss nicht genau, warum Ihre Schule auf die Idee gekommen ist, mich heute als Rednerin an den für Sie sicher ausserordentlich bedeutungsvollen Tag der Diplomverleihung einzuladen, aber die Anfrage hat mich auf jeden Fall gefreut. Die Welt der SozialarbeiterInnen-Ausbildung ist mir nicht ganz unvertraut, weil ich selber regelmässig an der HSA Luzern im Modul Migration als Lehrbeauftragte tätig bin.

Ich gehe davon aus, dass meine politische Tätigkeit der Grund ist, weshalb Sie mich heute eingeladen haben, ich bin nämlich vor kurzem erst nach 14 Jahre aus dem Nationalrat zurückgetreten. Und mit der Wahl einer Politikerin als Referentin zu diesem für Sie wichtigen Anlass bestätigen Sie bereits ein Stück weit meine These, die ich an den Anfang meiner Ausführungen stellen möchte und die lautet:

Sozialarbeit, die den Bezug zur Politik ausblendet, ist nicht auf der Höhe der Zeit! Sie müsste sich den Vorwurf gefallen lassen, nur Reparaturwerkstatt des Neoliberalismus zu sein.

Warum diese These?

Sie werden sowohl als Sozialarbeiterinnen, wie auch als Sozialpädagoginnen ganz direkt mit den Verwerfungen und Umbrüchen der Gesellschaft konfrontiert werden. Sie sitzen im Auge des Taifuns sozusagen, denn Sie werden in Ihrer neuen beruflichen Funktion KlientInnen gegenüber sitzen, die Opfer solcher Verwerfungen und Umbrüche sind.

  • Wenn Manager solide Unternehmen in den Ruin gewirtschaftet und sich dabei schamlos bereichert haben, werden die vom ruinierten Unternehmen "abgebauten" ArbeitnehmerInnen Ihnen bald einmal als KlientInnen gegenübersitzen.
  • Oder wenn die Anzahl der Spielkasinos, weil die Politik es so entschieden hat, in den letzten Jahren wie Pilze aus dem Boden geschossen sind, werden Sie die Spielsüchtigen oder deren verarmte Familienangehörige bald einmal als Klienten in Ihrer Beratung haben.
  • Oder wenn gewalttätige Ehemänner, die einem Männerbild der Vergangenheit verhaftet sind, ihre Frauen und Kinder verprügeln, dann sitzen Ihnen die Opfer oder vielleicht auch die Täter möglicherweise als Klientinnen oder Klienten gegenüber.
  • Oder wenn Flutkatastrophen halbe Kontinente unter Wasser setzen oder wenn korrupte Regimes ihre Landsleute aushungern und mit Terror überziehen, dann werden Ihnen die Opfer vielleicht eines Tages als Flüchtlinge in der Beratungsstelle für Asylsuchende gegenüber sitzen und die Politik bestimmt, unter welchen Bedingungen Asyl Suchende noch unterstützt werden dürfen.
  • Wenn der Diskurs über den Islam wieder einmal hohe emotionale Wellen wirft, und das tut er seit dem 11. September 2001 in immer kürzeren Abständen, werden Sie als Sozialpädagoginnen mit verschiedenen Clichés vom Kampf der Kulturen konfrontiert, wie zum Beispiel, dass das Bildungswesen dem Islam gegenüber ratlos sei.

Diese Liste liesse sich beliebig verlängern, sie zeigt Schlaglicht artig, dass die Verwerfungen und Umbrüche, mit deren Folgen Sie als sozial Tätige konfrontiert sein werden, nicht nur lokaler, sondern auch globaler Natur sind.

Womit wir bei der Globalisierung wären. Weltweit hat sich seit den 90er Jahren eine Entwicklung eingestellt, die mit Neoliberalismus umschrieben wird. Dessen Credo lautet, dass der Markt alles regle, wenn man ihm nur alle Zügel und vor allem alle staatlichen Fesseln ablege. Der Glaube an den Markt hat fast religiöse Züge angenommen und obwohl die negativen Auswirkungen bekannt sind, wird dieses Credo immer noch fast hirnwäscheartig wiederholt. Die SUVA soll privatisiert werden, die Swisscom, die SBB, obwohl man nur nach Grossbritannien schauen muss, um zu sehen, wie fatal sich die Privatisierung der Bahnen ausgewirkt hat: ein verlottertes Schienennetz, teure Fahrpreise, nicht aufeinander abgestimmte Fahrpläne, grosse Unfallhäufigkeit, um nur die augenfälligsten der negativen Konsequenzen zu nennen.

Die Ökonomisierung hat alles und jedes durchdrungen, so dass jedes menschliche Tun und jede Beziehung auf die Frage reduziert wird: was kostet es mich und was bringt es mir? Diese Entwicklung hat auch vor dem Bildungswesen nicht halt gemacht. Ich weiss nicht genau, wie es in Ihrer Schule aussieht, aber an der HSA Luzern ist dieser Trend sehr gut spürbar. Da wird nur noch von Produkten und Klientinnen gesprochen und jede Dienstleistung muss in Teilziele zerlegt, evaluiert und in Franken und Rappen gerechnet und verrechnet werden. Das gleiche gilt selbstverständlich auch für die staatliche Verwaltung, dort hat das New Public Management (NPM) Einzug gehalten, in Luzern heisst es WOV, in Zürich WIV, in Bern FLAG und in Graubünden Griforma. Ich habe aber festgestellt, dass mindestens auf Bundesebene die Begeisterung schon etwas abgeflaut ist und dass die Einsicht wächst, dass staatliches Handeln nicht einfach als Kunden/Verkäufer- Verhältnis definiert werden kann. Es gibt viele Dienststellen, die sich um die Einhaltung von gesetzlichen Vorschriften kümmern müssen, und das manchmal gegen den Willen des «Kunden».

Lassen Sie mich ein paar Folgen dieser Entfesselung des Marktes im Zuge des Neoliberalismus der 90er Jahre aufzeigen:

  • In den letzten Jahren verzeichneten die psychiatrischen Kliniken eine Zunahme depressiver Patientinnen von fast 100 Prozent, das Risiko für einen jungen Menschen, an einer Depression zu erkranken, hat sich seit den Achtzigerjahren beinahe verdoppelt. Viele Menschen sind überfordert mit den steigenden Anforderungen im Beruf und der gleichzeitigen Auflösung von vertrauten Strukturen und geraten in einen Dauerstress. Insbesondere die gesellschaftliche Entwicklung der 90er Jahre liess die Zahl der Erkrankten sprunghaft empor schnellen, so dass viele Fachleute von einer Zeitkrankheit mit epidemischem Charakter sprechen. 150 000 im Erwerbsleben stehende Menschen pro Jahr werden von einem Depressionsschub heimgesucht und sind in dieser Zeit völlig arbeitsunfähig. Gleichzeitig rühmt sich die IV, dass die Zahl der neuen Fälle zurückgegangen sei und dass das Ziel eine zwanzigprozentige Reduktion der IV-Fälle sein müsse.
  • Die Sozialhilfeausgaben haben sich in der Schweiz von 1990 bis 2000 verdreifacht und die Anzahl der SozialhilfeempfängerInnen hat sich im gleichen Zeitraum verdoppelt. Im Jahr 2005 betrugen die Ausgaben für die Sozialwerke 100 Milliarden Franken. Eine am 16. März 2006 vorgestellte Studie kommt zum Schluss, dass diese auf 143 Milliarden bis im Jahr 2030 anwachsen werden, was einer Zunahme von 43 Prozent entspricht. Die Sozialausgaben – AHV, IV, Ergänzungsleistungen, Erwerbsersatz, obligatorischer Bereich der zweiten Säule, die Krankenversicherung, die Unfallversicherung, die Familienzulagen, die ALV - werden also voraussichtlich bis zum Jahr 2030 einen Viertel des Bruttoinlandproduktes ausmachen. Sie werden, immer laut dieser Studie, rascher wachsen als die Wirtschaft. Das ist die Kehrseite der Medaille neoliberaler Wirtschaftspolitik.
  • In der Stadt Luzern werden 124 Personen vom Sozialamt unterstützt, obwohl sie mindestens 36 Wochenstunden arbeiten. 42 dieser Fälle sind Alleinerziehende. Kinder sind eines der grössten Armutsrisiken geworden! Diese sogenannten working poors machen 15% aller Sozialhilfe Bezügerlnnen in der Stadt Luzern aus.

Auch diese Liste liesse sich beliebig verlängern und sie zeigt ebenfalls Schlaglicht artig den Zusammenhang zwischen der Politik und der Sozialarbeit auf.

Und nun sind Sie als Sozial Tätige eben mitten drin im seismografischen Zentrum solcher Erschütterungen und können zwei Dinge tun:

Sie können Ihre Klientlnnen als Einzelfälle nach bestem Wissen und Gewissen und nach dem Buchstaben der geltenden Gesetze und Verordnungen beraten und Sie können nach getaner Arbeit nach Hause gehen. Wahrscheinlich brauchen Sie, um das Erlebte auszuhalten, irgend eine Methode der Regeneration, dazu gibt es ja einen blühenden Markt von Selbsterfahrungs- und Wellnessangeboten. Dies ist auch ein Indiz über den Zustand unserer Gesellschaft, wenn Parteien und Nonprofit-Organisationen Nachwuchsprobleme haben und gleichzeitig die Wellness-, die Selbsterfahrungs und die Supervisionsbranche boomt!

Das zweite, was Sie tun können, ist, die Erfahrungen, die Sie mit den Einzelfällen sammeln, dazu nutzen, die strukturellen Ursachen hinter den Einzelschicksalen herauszufinden und zu thematisieren und das ist hochpolitisch! Um bei einigen der Beispiele von vorher zu bleiben:

  • Sie können Erwerbsarbeitslose als Einzelfälle professionell beraten und zu deren Recht verhelfen. Sie können aber durch Einflussnahme auf die Politik dafür sorgen helfen, dass Fusionen und Betriebsschliessungen nicht ohne Verantwortung der Unternehmen für die Beschäftigten ablaufen und dass die Entlassenen eine Arbeitslosenversicherung vorfinden, die den Entlassenen weiterhin ein anständiges Leben ermöglicht
  • Sie können Flüchtlinge als Betreuungsfälle behandeln und schweigen über Fluchtursachen und über den fremdenfeindlichen Diskurs. Oder Sie können die globalen ökologischen und ökonomischen Zusammenhänge, die zu Flucht und Asyl führen, thematisieren und - ungeachtet von Stimmungslagen am Stammtisch und in Leserbriefseiten - einstehen für die Grundrechte aller Menschen, unabhängig von deren Hautfarbe, Herkunft und Ethnie. Dazu bietet sich Ihnen in diesem Jahr eine hervorragende Gelegenheit, weil nämlich die beiden Referenden zum Asyl- und Ausländergesetz zur Abstimmung kommen und ein hochemotionaler Abstimmungskampf bevorsteht. Da kann man sich einschalten, seine Stimme erheben, man kann sich auch dafür einsetzen, dass die Organisation, in der man arbeitet, Farbe bekennt, einen Leserbreif schreibt, Geld sammelt, einem Komitee beitritt.

Das Rüstzeug zum professionellen Umgang mit Ihren zukünftigen KlientInnen hat Ihnen die Hochschule für Soziale Arbeit mit Sicherheit geliefert. Das Rüstzeug zum politischen Handeln, hoffe ich, sei Ihnen als genau so wichtig mitgegeben worden. Das lässt sich aus dem Studienführer nicht genau eruieren.

Es heisst da, dass soziale Probleme und deren Lösungen in unserer modernen Gesellschaft zunehmend an Bedeutung gewinnen würden, dass damit Fachkräfte gefragt seien, die über differenzierte Kenntnisse bezüglich Entstehung und Bewältigung sozialer Probleme verfügten und in der Lage seien, diese Kenntnisse im Einzelfall systematisch und zielgerichtet für komplexe Problemlösestrategien zu nutzen. Weiter heisst es, dass die Soziale Arbeit eine komplexe professionelle Tätigkeit sei, die ein grosses fachliches Wissen voraussetze und hohe Anforderungen an die Handlungskompetenzen und die Persönlichkeit der Fachperson, also an Sie liebe Diplomandinnen und Diplomanden, stelle.

Laut Studienführer basiert die Ausbildung, die Sie mit dem heutigen Diplom beenden, auf einem integrativen Verständnis von Sozialer Arbeit und sollte Ihnen die für Ihre professionelle Tätigkeiten in unterschiedlichen Handlungsfeldern der Sozialen Arbeit relevanten theoretischen und praktischen Grundkenntnisse vermittelt haben. Angelpunkt des Studiums ist, immer laut dem Studienführer, die Verknüpfung von Theorie und Praxis. Professionelles Handeln in der Sozialen Arbeit setze die Fähigkeit voraus, Theorieverstehen mit Fallverstehen und der Kompetenz zur Bewältigung berufspraktischer Fragen zu verbinden.

Es steht nirgends explizit, dass Sie sich spezifisch mit der Interdependenz zwischen Ihrer Arbeit und der Politik beschäftigt haben. Aber ich kann mir nach dem Durchlesen Ihres Studienführers beim besten Willen nicht vorstellen, dass Sie es ohne diesen Bezug zur Politik geschafft haben sollten. Wie kann man über Arbeitslosigkeit, Armut, soziale Integration und Desintegration, Gewalt, Bildungsbenachteiligung, interkulturelle Konflikte, soziale Ungleichheit und Verteilungskonflikte nachdenken, ohne diesen Bezug. Und als ich Frau Dällenbach den Inhalt meiner Rede vorgeschlagen habe, hat sie geantwortet, dass genau dieser Bezug in Ihrer Ausbildung sehr wichtig sei. Und wenn dem so ist, dann bestätigt Ihre Schule und Ihre Ausbildung meine Eingangsthese und ist damit in diesem Punkt auf der Höhe der Zeit!

Mein Schlussplädoyer an Sie, liebe Diplomandinnen und Diplomanden, ist ein Aufruf für ein leidenschaftliches sich Einmischen in die res publica, in die öffentliche Sache! Ob Sie das im Rahmen Ihrer zukünftigen Institution oder als Mitglied eines Berufsverbandes oder einer Partei tun, ist unwichtig, aber tun Sie es! Sie als gut ausgebildete Leute mit diesem beruflichen Erfahrungshintergrund als sozial Tätige sind dazu geradezu prädestiniert!

Und ich kann Ihnen aus eigener Erfahrung sagen, dass Politik ungeheuer spannend ist und - das finden Sie jetzt vielleicht komisch - es ist auch gut für die Psychohygiene! Angesichts des Wahnsinns dieser Welt kann ich mir am Morgen im Spiegel immer noch in die Augen schauen und sagen: als Angehörige der Privilegierten dieser Welt habe ich mich wenigstens dafür eingesetzt, dass die Welt ein bisschen gerechter wird. Es muss überhaupt nicht die Parteipolitik und ein Mandat in einem Rat sein, ich selber habe den Umstieg gemacht vom Nationalrat in die NGO-Szene, leite heute eine feministische Friedensorganisation und bald auch den Stiftungsrat von Greenpeace. Das ist auch hochpolitische Arbeit. Ich betrachte es als Privileg, in Institutionen zu arbeiten, in denen man mit Herzblut bei der Sache sein kann. Sie sehen, für Engagements für die öffentliche Sache gibt es viele Möglichkeiten!

Es wäre schön, Sie als Verbündete auf dem Weg zur Utopie einer gerechten Welt zu haben! Ich wünsche Ihnen von Herzen alles Gute für Ihre Zukunft und danke der Schulleitung für die Einladung und Ihnen allen für die Aufmerksamkeit, mit der Sie mir zugehört haben.

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