Die Schweiz. Jetzt. Zur Lage der Nation

Die Schweiz. Jetzt. Zur Lage der Nation

Referat im Rahmen der Vortragsreihe der evangelisch-reformierten Kirchgemeinde Kirchlindach, 7. Februar 2008

Ganz schön mutig, Ihr Herr Pfarrer, habe ich mir gedacht, als er mich anfragte, heute abend hier zu referieren und mir gleich noch völlig freie Hand liess, um über die Lage der Nation zu reden. Solche Privilegien haben sonst nur mehrheitsfähige Figuren, Staatspräsidenten wie Georg Bush zum Beispiel, der hat vorigen Montag seine letzte Rede zur Lage der Nation, the state of the union, gehalten. Ein grosses Wort: zur Lage der Nation! Aber ich kann Ihnen versichern, dass es für mich als ehemalige Politikerin - und weiterhin sehr politischen Menschen - natürlich phantastisch ist, mir einmal ohne Vorgaben und Einschränkungen öffentlich Gedanken machen zu können über den Zustand des Landes, für das ich mit ganz viel Herzblut 14 Jahre Politik gemacht habe. Und dabei noch so aufmerksame ZuhörerInnen zu haben! Eine Traumvorgabe!

Mein Menschenbild

Um es gleich vorweg zu nehmen: meine Ausführungen sind keine ausgewogenen Sache. Ich war nie eine Mehrheitsbeschafferin, sondern mein Selbstverständnis war das einer Oppositionellen – einer echten, ohne Vertretung im Bundesrat – einer Vorausdenkerin, und deshalb ist meine Analyse zur Lage der Nation eine, die sich an der Frage misst, ob das Leben in diesem Land nach den Herbstwahlen für alle Menschen, auch die am Rande besser werde oder nicht und ob die Aussichten auf einen erhöhten Schutz der Umwelt steigen oder nicht. Auf den ersten Teil der Frage versuche ich heute Abend eine Antwort zu geben.

Sie werden wenig «sowohl als auch von mir hören», sondern eher parteiliche Stellungnahmen, klare Bekenntnisse meines Standpunktes, ich werde einige von Ihnen damit sicher provozieren, aber es geht mir nicht um die Provokation als Stilmittel, sondern um das Darlegen meiner Einschätzung. Damit Sie das, was ich sage, besser einordnen können, möchte ich Ihnen sagen, von welchem Menschenbild ich ausgehe: vom Menschenbild der Gleichwertigkeit aller Menschen, unabhängig von Geschlecht, Status, Herkunft, Hautfarbe. Das heisst in der Konsequenz, dass ich mich für die Grundrechte aller Menschen einsetze, unabhängig davon ob sie mir sympathisch sind oder nicht, einfach auf Grund ihres Menschseins und der damit inhärenten Würde.

Deswegen hat für mich der Artikel 8 der Bundesverfassung eine ganz hohe Bedeutung:

BV Art. 8 Rechtsgleichheit
  1. Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich.
  2. Niemand darf diskriminiert werden, namentlich nicht wegen der Herkunft, der Rasse, des Geschlechts, des Alters, der Sprache, der sozialen Stellung, der Lebensform, der religiösen, weltanschaulichen oder politischen Überzeugung oder wegen einer körperlichen, geistigen oder psychischen Behinderung.
  3. Mann und Frau sind gleichberechtigt. Das Gesetz sorgt für ihre rechtliche und tatsächliche Gleichstellung, vor allem in Familie, Ausbildung und Arbeit. Mann und Frau haben Anspruch auf gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit.
  4. Das Gesetz sieht Massnahmen zur Beseitigung von Benachteiligungen der Behinderten vor.


Sie erinnern sich vielleicht, das Parlament wurde zurückgepfiffen, als es im Zusammenhang mit der Asylgesetzrevision die Nothilfe abhängig machen wollte vom Wohlverhalten eines abgewiesenen Asylsuchenden. Das Bundesgericht hat gesagt, dass das nicht gehe, weil man jedem Menschen, einfach weil er ein Mensch sei, minimalste Hilfe geben müsse, damit der Mensch überleben könne. Da konnte man die moralische Empörung, den so genannten gesunden Menschenverstand natürlich wunderbar hoch kochen lassen so nach dem Motto: man hat die nicht gerufen, sie benehmen sich daneben und jetzt muss man sie noch mit unseren Steuergeldern durchfüttern!!

Hinstehen statt wegschauen

Und gegen solche Reden hinzustehen, sich nicht zu ducken oder gar mit den Wölfen zu heulen, war als Politikerin nicht immer einfach und die Reaktionen waren gewaltig, wenn ich mich gegen diese simple Logik einsetzte und die viel schwierigere Grundrechts- und Rechtsstaatsposition einnahm. Aber es entsprach meinem Menschenbild, schliesslich bin ich auf Grund eigener Diskriminierungserfahrungen in die Politik gegangen. Zudem glaube ich – trotz Rückschlägen- unerschütterlich an die aufklärerische Wirkung und die Kraft des guten Arguments!

Und ich konnte auch nicht einer Politik das Wort reden, die sagt, dass wir nur für uns selber zu sorgen hätten, wenn ich wusste, dass weltweit täglich Hunderte von Menschen verhungern. Deshalb muss ich auch selbstverständlich für die 0,7%-Kampagne einstehen, die zur Zeit von einer grossen Gruppe von Hilfswerken und andern NGOs mitgetragen wird. Sie heisst 0,7% - Gemeinsam gegen Armut!

Stellen Sie sich vor: die Hälfte der Menschheit muss mit weniger als drei Franken pro Tag auskommen. Millionen von Kindern haben keine Schulen und sind zu einem Leben im Elend verurteilt. Krankheiten wären zwar heilbar, aber es fehlen Medikamente, ein funktionierendes Gesundheitswesen. 800 Millionen Menschen leiden an chronischem Hunger, über eine Milliarde Menschen haben kein sauberes Trinkwasser. Der Graben zwischen arm und reich wird immer tiefer. Das führt zu Gewalt, Konflikten und Kriegen. Es gibt keinen Frieden ohne Gerechtigkeit!

Armut ist nicht Schicksal, sie ist die Folge von sozialen Ungerechtigkeiten, der systematischen Benachteiligung der Frauen und des rücksichtslosen Umgangs mit der Umwelt. Deshalb haben alle Regierungen dieser Welt, auch jene der Schweiz, im Jahr 2000 die so genannten Millennium-Entwicklungsziele beschlossen. Um die schlimmste Armut und den Hunger bis 2015 zu halbieren, haben die reichen Länder versprochen, ihre Handels- und Finanzbeziehungen gerechter zu gestalten und ihre Entwicklungshilfe auf 0,7% des Bruttonationaleinkommens zu erhöhen. Armut ist ein Skandal. Darum fordert eine im Rahmen der Kampagne gestartete Petition Parlament und Bundesrat auf,

  • sich stärker für die Millennium-Entwicklungsziele zu engagieren, damit die schlimmste Armut und die Zahl der Hungernden bis 2015 halbiert werden können.
  • die öffentliche Entwicklungshilfe bis 2015 schrittweise auf 0,7% des Bruttonationaleinkommens zu erhöhen.
  • diese Mittel gezielt zugunsten der Ärmsten und Benachteiligten dieser Welt sowie zum Schutz der Umwelt einzusetzen.


Warum 0,7 Prozent des Bruttonationaleinkommens?
Weil es mehr nicht braucht, um die Millenniumsziele zu erfüllen. Wenn wir von 100 Franken, die in der Schweiz und in anderen reichen Ländern verdient werden, nur 70 Rappen einsetzen, um die Armut zu bekämpfen, können wir die Ziele erreichen. Die 15 „alten“ EU-Länder haben deshalb beschlossen, ihre Entwicklungsausgaben bis 2015 auf 0,7% zu erhöhen. Die Schweiz hat es zwar auch versprochen, aber ihre Entwicklungshilfe stagniert bei knappen 0,4%.

Folgende Organisationen tragen gemeinsam die Kampagne

Alliance Sud • Amnesty International • Associazioni Cristiane Lavoratori Italiani / Internazionali • Bethlehem Mission Immensee • Brot für alle • Brücke – Le Pont • Caritas Schweiz • Christlicher Friedensdienst cfd • CMSI – Conferenza Missionaria della Svizzera Italiana • DM-échange et mission • E-changer • Enfants du Monde • Eirene • Erklärung von Bern • Evangelischer Frauenbund der Schweiz • Fastenopfer • Fédération Genevoise de Coopération • Fédération Jurassienne de Coopération et de Développemen • Fédération Vaudoises de Coopération • Federazione delle ONG della Svizzera Italiana • Genève Tiers Monde • Greenpeace Schweiz • Groupe Volontaire Outremer • Hilfswerk der Evangelischen Kirchen HEKS • Helvetas • Interagire • Intercooperation • Interteam • Kommission für Entwicklungsfragen Uni/ETH Zürich • Missio • Mission 21 • Pro Natura • Schweizerische Arbeitsgemeinschaft der Jugendverbände • Schweizerisches Arbeiterhilfswerk SAH • Schweizerischer Gewerkschaftsbund • Schweizerischer Katholischer Frauenbund • Schweizerischer Verband für Frauenrechte • Solidarmed • Stiftung Kinderdorf Pestalozzi • Stiftung Terre des Hommes Kinderhilfe • StopArmut 2015 • terre des hommes schweiz • Terre des Hommes Suisse • Travail Suisse • Unité.

Ich bin ganz stolz darauf, in zwei NGOs in Leitungsfunktioen zu sein, die sich beide an der 0,7%-Kampagen beteiligen und die beide das Wort Frieden im Namen tragen.

Zum Zustand der Schweiz nach den Herbstwahlen

Dass ich mit meinem politischen Programm nicht glücklich war nach den Wahlen vom Oktober, können Sie sich sicher denken! Wie sollte ich auch? Natürlich freut mich das markante Zulegen meiner eigenen Partei, da dieser Zuwachs aber auf Kosten der SP, der besten Verbündeten im politischen Alltag ging, war die Freude darüber sehr getrübt. Denn auf die Frage ob das Leben in diesem Land nach den Herbstwahlen für eine Mehrheit der Leute besser werde oder nicht, muss ich trotz Grünem Wahlerfolg klar sagen: nein! Denn es haben jene Kräfte markant zugelegt, die seit Jahren nur ein Programm vertreten: Sozialabbau, Steuern runter, Ausländer raus, Frauen zurück an den Herd, keinen Franken für den Schutz der Umweltschutz, wir Schweizer sind die Besten, ausserhalb der Grenzen beginnt das Feindesland! Das ist natürlich zugespitzt, trifft aber sehr wohl den Kern der Sache!

Deshalb war Christoph Blochers Abwahl im Dezember für mich und für viele in diesem Land, die mit diesem Programm nichts anfangen können, wie ein Akt der Befreiung, der Befreiung von etwas, was nicht gut tat, das Ende einer bleiernen Zeit. Wer anders Denkende so verhöhnt und verhunzt, kann mit sich selber wahrscheinlich nicht im Reinen sein. So hatte ich Christoph Blocher schon als Nationalratskollegen erlebt, deshalb habe ich als Fraktionschefin der Grünen damals 2003 eine Rede gehalten, warum man ihn nicht wählen soll.

«Wenn die Konkordanz aber mehr ist als die simple Addition von Wähleranteilen, bekommen plötzlich ganz andere Fragen eine grosse Bedeutung: Ist eine Partei, die die «Perle Schweiz» – wie sie der Nationalratspräsident vorhin erwähnt hat – systematisch schlecht geredet hat, die systematisch Gräben zwischen ihr und allen anderen aufreisst, regierungstauglich? Ist eine Partei, die die Schweiz systematisch mit Hassparolen, mit Hetze und Diffamierung überzieht, die alle Andersdenkenden verhöhnt und ihnen unlautere Motive unterstellt, konkordanztauglich? Ist eine Partei, die sich im Besitze der alleinigen Wahrheit wähnt, regierungstauglich? Ist eine Partei, die Menschen am Rande der Gesellschaft – Sozialhilfebezüger, IV-Rentner und -Rentnerinnen, Arbeitslose – unter generellen Missbrauchs- und Schmarotzerverdacht stellt, regierungstauglich?

Ist eine Partei, die die Classe politique, der sie selber angehört, verhöhnt, regierungstauglich? Ist eine Partei, die die Schweiz mit fremdenfeindlichen Parolen überzieht und Fremde und Eingewanderte als Missbraucher und Schmarotzer diffamiert, konkordanztauglich? Ist eine Partei, die sich um den verfassungsmässigen Auftrag foutiert, wie er in Artikel 2 der Bundesverfassung steht, regierungstauglich? Ich zitiere ihn: Die Eidgenossenschaft "fördert die gemeinsame Wohlfahrt, die nachhaltige Entwicklung, den inneren Zusammenhalt und die kulturelle Vielfalt des Landes .... Sie sorgt für eine möglichst grosse Chancengleichheit unter den Bürgerinnen und Bürgern .... Sie setzt sich ein für die dauerhafte Erhaltung der natürlichen Lebensgrundlagen und für eine friedliche und gerechte internationale Ordnung." Aufgrund all dieser Fakten und der Erfahrungen mit der SVP der letzten Jahre müssen wir sämtliche diese Fragen mit Nein beantworten. Das heisst für uns, dass die SVP in die Opposition und nicht in die Regierung gehört.

Das Programm der SVP ist dem neoliberalen Credo verpflichtet, welches sagt, dass der Markt ohne jede staatliche Fessel alles regle und dass der Staat dem freien Wirken der Wirtschaft nur im Wege stehe und zu nichts anderem nütze sei, als dem armen Bürger und der armen Bürgerin das Geld aus der Tasche zu ziehen. Wenn diese neoliberale Politik gekoppelt mit dem Ausgrenzungsprogramm, wie ich es geschildert habe, in der Schärfe, wie es die SVP fordert, umgesetzt wird, dann wird es kalt in der Schweiz. Dann bleiben die Umwelt, die Bildung, die soziale Sicherheit, die Chancengleichheit, die Solidarität mit der Dritten Welt auf der Strecke, und uns Frauen droht ein Rückschlag nach dem Motto: zurück an den Herd! Dass die grüne Fraktion aus den genannten Gründen kein Interesse daran hat, eine politische Kraft im Bundesrat zu stärken, die für all das steht, was gegen die zentralen Interessen einer nachhaltigen und solidarischen Politik ist, können Sie sich sicher vorstellen. Der SVP-Kandidat Christoph Blocher steht nicht nur symbolisch für diese Politik, er hat sie wesentlich mitgeprägt und, was wir demokratiepolitisch heikel finden, auch mit viel Geld, mit grossen Inseraten, Plakaten und Sendungen an alle Haushalte unter die Leute gebracht.

Deshalb wird die grüne Fraktion ihre Stimmen nicht Herrn Blocher geben!»

Eine Genugtuung, dass wir im Nachhinein Recht bekommen haben. Denn viele unserer Bedenken sind eingetroffen, von Einbindung und Konkordanztauglichkeit keine Spur. Das hat dazu dazugeführt, dass die vielen Verletzten, Verhöhnten und Enttäuschten vier Jahre später Christoph Blocher abgewählt haben. Das ist gut so. Ich habe von vielen meinen ehemaligen Kolleginnen und Kollegen gehört, dass die Stimmung im Bundeshaus seither wieder eine andere sei und dass sie wieder viel mehr Lust an der Politik hätten.

Ursachen der Rückgriffe auf Tradition und der Abgrenzung gegen Fremde(s)

Seit Jahren läuft eine grosse Debatte über die Integration, die Migration, bei jedem Verbrechen wie am Samstag im Tessin, steht die Integrationsfrage zur Debatte. Lassen Sie mich einige Gedanken dazu machen: Integrare heisst ganz machen: Ganz machen kann man nur, was unvollständig ist. Ist eine Gesellschaft unvollständig, wenn es Ghettos gibt, in der Menschen unter sich zufrieden leben? Oder ist der Zürichberg nicht ein solches Ghetto? Stört es, dass die Kinder reicher Eltern in englischsprachige Privatschulen gehen? Sind wir ehrlich, der Appell zur Integration richtet sich nicht an die reichen Leute in Oberschichtquartieren, sondern immer nur an Leute am Rand der Gesellschaft. Und hat dieser Appell nicht oft auch den Unterton der Anpassung, des nicht Aushaltens von Abweichung, von Anderem, von Fremden? Kommt darin nicht die Befindlichkeit eines Teils der Gesellschaft zum Ausdruck, die mit dem Rückgriff auf die Überbetonung des Eigenen, der Heimat, auf die Überforderungen und Zumutungen durch zu rasche Modernisierungsprozesse und durch die Globalisierung reagiert?

Wie sonst lassen sich die folgenden Phänomene erklären: «Dr Schacher Seppli» von Ruedi Rymann wurde im Dezember zum grössten Schweizer Hit auserkoren. Kurze Zeit später wird Jörg Abderhalden, Schwingerkönig «Schweizer des Jahres» 2007. Damit wählte das Schweizer Fernsehpublikum zweimal die Tradition, Jodeln ist traditionelle Musik, Schwingen ist eine traditionelle Schweizer Sportart. Es hätte durchaus Alternativen gegeben, Marc Forster zum Beispiel, Regisseur mit Weltruf, mit seinem wunderbaren Film «The Kite Runner» aus Afghanistan, der zur Zeit einen James Bond-Film dreht.

Was sagt das aus über das Selbstbild eines Landes, das mit der ganzen Welt Geschäfte macht, international venetzt und global tätig ist, ein Land mit dem höchsten Lebensstandard, der modernsten Technik, dem weltbesten Öffentlichen Verkehrssystem? Ein Land, das jeden zweiten Franken im Ausland verdient? Ein Land dessen Grenzen jeden Tag von 700'000 Personen in beiden Richtungen überquert werden? Ein Land, dessen Unternehmen allein im EU-Raum rund 850'000 Arbeitsplätze unterhalten und von dem aus rund 200 Milliarden Franken Direktinvestitionen in die EU gehen. Nicht nur bei den Waren- und Kapitalströmen ist die Verflechtung mit der EU besonders stark, sondern auch bei den Arbeitskräften: Rund 390'000 Schweizerinnen und Schweizer wohnen und arbeiten in der EU. Umgekehrt leben 890'000 EU-Bürgerinnen und EU-Bürger in der Schweiz. Internationale Einbindung und Verflechtung pur!

Was sind die Ursachen für solche Diskrepanzen?
Lasse Sie mich dazu einige Fachleute zitieren:

  • Gemäss der Modernisierungstheorie neigen Menschen dazu, in Zeiten raschen gesellschaftlichen Wandels und veränderten politischen Ordnungen eher auf konstruierte Kategorien der Selbstdefinition und Orientierung zurück zu greifen, wie auf eine gemeinsame kulturelle Abstammung. (Urs Altermatt).
  • Die Zurückweisung von (sozial konstruierten) Fremdgruppen ist Ausdruck der Identitätskrise der Schweiz, zwischen Mystifizierung des helvetischen Sonderfalls einerseits und noch wenig stabiler transnationaler Identifikation mit Europa andererseits. Dabei geht es nicht nur um die subjektiv empfundene Bedrohung kultureller Identität, sondern auch um die Bewahrung von Besitz- und Dominanzansprüchen, welche an die Schweizer Nationalität gekoppelt werden. (Hanspeter Kriesi)
  • Die wachsende Fremdenfeindlichkeit hat m.E. ihre hauptsächlichen Ursachen gar nicht in der Zahl der anwesenden Ausländer, sondern in Verelendungsängsten, Perspektivelosigkeit und in der Schwierigkeit, Modernisierungsprozesse zu verarbeiten. (Georg Kreis)
  • Der moderne Rassismus entsteht als Antwort auf die Zumutung der Moderne. (Andreas Wimmer)
  • Je grösser die Desintegrationsprobleme in der aufnehmenden Gesellschaft sind, desto grösser sind auch die Integrationsprobleme der Aufzunehmenden. (W. Heitmeyer)
  • Die zunehmende Verlassenheit treibt die modernen Menschen so leicht in die totalitären Bewegungen. (Hannah Arendt)


Wenn diese gescheiten Leute Recht haben, dann werden uns diese Phänomene auch in Zukunft beschäftigen, denn die Globalisierung geht ungebremst weiter. Die weltweit zunehmende Migration ist ja auch eine Folge der Globalisierung und sie konfrontiert uns als Teil der wohlhabenden Welt mit den berechtigten Forderungen der „Habenichtse“, die aus allen Teilen der Welt auf der Suche nach einem bessern Leben auch in unser Land kommen, das schon längst keine Insel mehr ist. Wir mit unserer Migrations- und Einbürgerungsgesetzgebung bestimmen, unter welchen Bedingungen sie hier leben. Das mögliche Spektrum ist breit und reicht von chancengleich und mit raschem Zugang zu unseren politischen und sozialen Institutionen bis zum Leben am Rande der Gesellschaft, rechtlos als «sanspapiers».

Gespannt bin ich, wie die Schweiz längerfristig auf die Zunahme der Elite reagieren wird. In einem Artikel in der NLZ vom 28. Oktober 2006 über die neue grösste Zuwanderergruppe der Deutschen sagte der Präsident der Eidg. Ausländerkommission, Francis Matthey, dass diese eine Einwanderergruppe sei, die sich problemlos in unsere Gesellschaft integrieren würde. Dem widersprach Christoph Mörgeli von der SVP, indem er bemängelte, dass viel Deutsche meinten, sie seien hier in einem anderen Bundesland und er forderte von ihnen bessere Anpassung. Wenn jeder dritte Spitalarzt in der Zentralschweiz heute ein Deutscher ist, werden neue Gruppen von Einheimischen, die lange vor Zuwanderung stark geschützt waren, mit dieser Konkurrenz konfrontiert. Steht uns eine antideutsche Debatte wohl bald bevor? Oder sind wir schon mittendrin? Ich hoffe das selbstverständlich nicht, will aber damit betonen, dass die Frage der Verteilung und die Angst vor dem Aufgeben von Privilegien ein zentrales Element für einen fremdenfeindlichen Diskurs darstellt.

Erklärungsfaktoren von Ausländerfeindlichkeit

Andrea Hänni, Professorin an der PHZ Luzern hat in ihrer Dissertation die ausländerfeindliche Einstellung von Jugendlichen untersucht und kam zu folgenden Befunden: Der Faktor Urbanisierungsgrad der Wohngegend erklärt den höchsten Anteil von Ausländerfeindlichkeit bei Schweizer Jugendlichen, an zweiter Stelle folgt ein nationales Staatsbürgerschaftsverständnis: Je ländlicher die Wohngegend der Befragten ist, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass sie eine negative Einstellung gegenüber Migrant/innen entwickeln. Je stärker die befragten Jugendlichen der Meinung sind, dass man einen guten Bürger an der Bereitschaft erkennt, in der Schweizer Armee zu dienen und hart zu arbeiten, sowie am Ausmass des Nationalbewusstseins und der Geschichtskenntnisse über die Schweiz, desto ausländerfeindlicher sind sie eingestellt. Jugendliche mit ausländerfeindlicher Einstellung scheinen sich eher mit einem traditionellen, vom «Sonderfall Schweiz» geprägten Bild der Schweizer Nation zu identifizieren, wie es in ländlichen Gegenden noch stärker verbreitet zu sein scheint. Das Aufwachsen in einem traditionell ländlichen, nach innen orientierten Milieu scheint deshalb im Gegensatz zu einem städtisch-kosmopolitischen Milieu der Übernahme einer ausländerfeindlichen Einstellung förderlich zu sein.

Ausserdem steigt die Neigung zur Ausländerfeindlichkeit mit zunehmend autoritärer Grundeinstellung, die auch als Law-and-Order-Mentalität bezeichnet werden kann: Darunter fällt die Bereitschaft zu diszipliniertem Gehorsam gegenüber Autoritäten und politischen Führungspersonen sowie der Ruf nach einer härteren Gangart gegenüber Kriminellen. Ein weiterer Faktor zur Erklärung von Ausländerfeindlichkeit ist ein tieferes soziales Engagement: Je schwächer die Bereitschaft der Jugendlichen ist, sich als erwachsene Person für soziale und karitative Zwecke zu engagieren, desto ausländerfeindlicher sind sie eingestellt. Die weniger ausgeprägte Solidarität mit sozial Schwachen wie armen oder älteren Menschen, legt den Schluss nahe, dass sich Jugendliche mit zunehmender Ausländerfeindlichkeit eher am «Recht des Stärkeren» orientieren. Die Wahrscheinlichkeit, eine ausländerfeindliche politische Einstellung zu übernehmen, steigt auch dann, wenn die befragte Person ein Junge ist. Das männliche Geschlecht stellt somit einen Risikofaktor dar.

Des Weiteren lässt sich Ausländerfeindlichkeit durch Bildungsbenachteiligung erklären: Die befragten Schüler/innen sind umso ausländerfeindlicher eingestellt, je weniger sie über Politik wissen, je mehr Mühe sie bei der Interpretation politischer Texte haben und je weniger sie den staatlichen und politischen Institutionen vertrauen. Ein Mangel an politischer Bildung und an Einsicht in das Funktionieren der Politik scheinen der Neigung zur Ausländerfeindlichkeit Vorschub zu leisten. Politische Bildung gekoppelt mit Vertrauen in die Politik vermögen hingegen im Hinblick auf die Entwicklung einer ausländerfeindlichen Einstellung als Schutzfaktoren zu fungieren. Soweit die Befunde der Studie von Andrea Hänni.

Ein scharfer Diskurs auch nach den Wahlen

Die berechtigte Angst vieler Menschen, Verlierer der Modernisierung und der Globalisierung zu sein oder zu werden, ist weit verbreitet und sie lässt sich politisch gut bewirtschaften und ausbeuten. Die Vergangenheit hat gezeigt, dass das eine erfolgreiche Strategie zum Gewinnen von Wahlen ist. Deshalb müssen wir auch in Zukunft mit einem stark fremdenfeindlichen Diskurs rechnen. Die grösste und rechteste Partei hatte in ihrem Wahlprogramm angekündigt, dass sie nebst der Forderung, die Antirassismus-Strafnorm und die Eidg. Kommission gegen Rassismus EKR (und der Gleichstellungsbüros) abzuschaffen, den Minarettstreit anheizen und weitere Verschärfungen im Ausländerrecht fordern will wie die sofortige Ausschaffung straffälliger Ausländer und den Entzug des Schweizer Bürgerrechts für Straffällige, sowie das Verbot der Einbürgerung von Menschen, die eine soziale Unterstützung wie eine IV-Rente, eine Arbeitslosengeld oder Sozialhilfe brauchen. Ein rauer Wind wird uns da entgegenschlagen! All jene, die geglaubt haben, in dem sie der SVP mit einem Anpassungskurs entgegenkämen und deren Forderungen bei der Revision des Asyl- und Ausländergesetz unterstützten, würde diese dann vom «Ausländerthema» ablassen, haben sich getäuscht. Das Gegenteil ist der Fall, der Wahlerfolg hat ihr den Rücken gestärkt und sie wird ihr erfolgreiches Wähler-Rekrutierungsfeld nicht aufgeben und sie verfügt über ein weiteres unschätzbares Potential: eine überdurchschnittliche Medienöffentlichkeit.

Eine vom Forschungsbereich Öffentlichkeit und Gesellschaft (fög) der Universität Zürich im Auftrag der EKR erarbeitete Studie zeigt auf: Im Wahlkampf 2007 wurden Ausländerinnen und Ausländer negativ typisiert und instrumentalisiert. Dabei waren insbesondere Muslime und jugendliche Ausländer die Zielscheibe. Im Auftrag der EKR untersuchte der fög die Typisierung von Ausländerinnen und Ausländern im Wahlkampf. Drei Viertel der festgestellten negativen Darstellung von Ausländern und Minderheitenangehörigen wurden von der SVP vorgenommen. Ihre Strategie und die intensiven Reaktionen der Medien und der anderen Parteien darauf sorgten dafür, dass die Negativstereotypen in hohem Masse – noch vor der Umweltproblematik – die Wahlkampagne dieses Sommers prägten. Die Kritik an diesem negativen Bild der ausländischen Bevölkerung war interessanterweise in der französischen Schweiz deutlich höher.

Eine Perpetuierung des Feinbildes «Muslime»

Lassen Sie mich kurz auf eine Stellungnahme der EKR Bezug nehmen, die vor 1 ½ Jahren veröffentlicht wurde und die sich mir der Beziehung der Mehrheitsgesellschaft zur muslimischen Minderheit in unserem Land beschäftigt. Die Kommission stellt darin fest, dass in der öffentlichen Debatte die Tendenz besteht, Muslime kollektiv für das Weltgeschehen verantwortlich zu machen. Sie stellt ebenfalls fest, dass Diskriminierungen im täglichen Leben der Muslime in den Bereichen Arbeiten, Wohnen, Einbürgerungsverfahren und bei Baugesuchen und Bestattungsverfahren stattfinden und dass die Zugehörigkeit zum Islam oft als Ausschlusskriterium gebraucht, respektive missbraucht wird.

Rund 340'000 Muslime und Musliminnen aus über 100 Ländern leben heute in der Schweiz. Sie sind Angehörige verschiedener Ausrichtungen des Islam. Nahezu 12% sind Schweizer Bürgerinnen und Bürger. Gemäss einer Studie der Eidg. Ausländerkommission (EKA) praktizieren 10-15% die Religion, während diese besonders für die junge Generation eher eine Familientradition darstellt.

Mit Blick auf die Weltpolitik sind die MuslimInnen in den letzten Jahren die neuen Sündenböcke der öffentlichen Debatte in der Schweiz geworden. Hier lebende Menschen werden oft kollektiv verunglimpft und in eine Art Sippenhaft für weit entfernte Ereignisse genommen. Es ist deshalb wichtig zu erkennen, dass der Diskurs über Muslime von Stereotypen und Vorurteilen geprägt ist, die zwar bereits vor dem Krieg in Südosteuropa und den Attentaten vom 11. September 2001 existiert haben, durch diese Ereignisse aber noch verstärkt worden sind und durch jedes Verbrechen, das unter Missbrauch des Namens Islam geschieht, weiter Nahrung bekommt.

Das führte in letzter Zeit zu unglaublichen Tabubrüchen, in der Politik wir auch in gewissen Medien. Der Kolumnist des Sonntagsblicks, Frank. A. Meyer, der schon vor Jahren mit dem Titel «Der Schoss, aus dem das Ungeheurer kroch», Stimmung gegen den Islam gemacht hat, verstieg sich im Sonntagsblick zur Aussage: «Der Islam ist unser Gegner, der Islamismus unser Feind.»

Die Folgen dieses Diskurses bekommen Muslime und Musliminnen in unserer Gesellschaft hautnah zu spüren. An einer vom cfd veranstalteten Diskussionsreihe schilderten uns junge Musliminnen der zweiten Generation, wie sie durch diesen Diskurs in der Mehrheitsbevölkerung unter Rechtfertigungsdruck geraten, wie sie verunglimpft und angegriffen werden, wie sie sich distanzieren müssen, weil ihre Religionszugehörigkeit sie in die Nähe von Gewalt und Terror rückt. Sie waren richtig erleichtert, einmal vor einem Schweizerischen Publikum über diese für sie bedrohliche Entwicklung differenziert reden zu können.

Sie schilderten auch, dass es neu für sie sei, sich wegen ihrer Zugehörigkeit zum Islam dauernd erklären zu müssen und dass das zur Folge habe, dass sie sich zwangsläufig viel mehr mit ihrer Religion identifizieren müssten, als das früher der Fall gewesen sei. Mir kam dabei der Gedanke, dass gerade dieser Ausschluss, dieses «Versorgtwerden» in der Schublade «Islam= Gewalt» junge Leute, ich denke da eher an junge Männer, möglicherweise auch radikalisieren kann, dass sie am Schluss dann tatsächlich dort sind, wohin sie das falsche Cliché schon lange hingestellt hat: in der gewalttätigen Ecke.

Das zunehmende Fehlen jede Empathie

Nach der systematischen, jahrelangen Diskreditierung der Flüchtlinge als Missbraucher und «Scheinasylanten» stellen wir fest, dass in weiten Kreisen der Bevölkerung kaum mehr Empathie für das Schicksal für Flüchtlinge von heute vorhanden ist. Sie verschwinden auch immer mehr aus dem Blickfeld, weil ihre Zahl ja drastisch zurückgeht, da sie durch die Verschärfungen der Asylgesetzgebung kaum mehr ins Asylverfahren aufgenommen werden.

Das war auch schon anders. Ich erinnere mich noch gut daran, als die Ungarnflüchtlinge im Jahre 1956 in die Schweiz kamen, eine echte Sympathiewelle durch die Bevölkerung ging und die Schweiz alle schnell und unbürokratisch aufgenommen ha. Es wurde kein Unterschied zwischen politischen und wirtschaftlichen Fluchtgründen gemacht, die Tatsache, dass sie – es war mitten im Kalten Krieg - vor dem Kommunismus flohen, genügte, um die Bevölkerung positiv zu stimmen. Die Bilder der russischen Panzer, die in Budapest gegen die Widerstand leistenden Ungarinnen und Ungarn vorgingen, weckten eine ungleich grössere Sympathie für die Flüchtenden als die Bilder der halb verhungerten und verzweifelten Menschen, die heute auf waghalsigen Überfahrten über das Mittelmeer ihr Leben riskieren oder die Bilder der Toten, die an die Küsten Italiens oder Spaniens gespült werden. Möglicherweise mag da auch noch Rassismus eine Rolle spielen, handelt es sich in der Regel um Menschen schwarzer Hautfarbe. Aber sicher verstellt auch die permanente Verunglimpfung heutiger Flüchtlinge als unechte, als Scheinasylanten den Leuten den Blick auf die Not, die hinter solchen Fluchtgeschichten steht und ist mitverantwortlich für das Fehlen jeder Empathie, das sich einfühlen können in das Schicksal anderer Menschen.

Der Neoliberalismus wirkt sich aus

Generell ist also festzustellen, dass die Desintegrations- und Entsolidarisierungsphänomene durch rasche Modernisierungsprozesse in unserer Gesellschaft zunehmen. Das erschwert es zunehmend, Mehrheiten für den sozialen Ausgleich zu finden.

Eine wichtige Ursache dafür ist, wie bereits erwähnt, die Globalisierung. Weltweit hat sich seit den 90er Jahren eine Entwicklung eingestellt, die mit Neoliberalismus umschrieben wird. Dessen Credo lautet, dass der Markt alles regle, wenn man ihm nur alle Zügel und vor allem alle staatlichen Fesseln ablege. Der Glaube an den Markt hat fast religiöse Züge angenommen und obwohl die negativen Auswirkungen bekannt sind, wird dieses Credo immer noch wiederholt. Die SUVA soll privatisiert werden, die Swisscom, die Post wird immer mehr dem Markt ausgesetzt. Nach den harten Neoliberalen soll sogar die SBB privatisiert werden, obwohl man nur nach Grossbritannien schauen muss, um zu sehen, wie fatal sich die Privatisierung der Bahnen ausgewirkt hat: ein verlottertes Schienennetz, teure Fahrpreisen, nicht auf einander abgestimmte Fahrpläne, grosse Unfallhäufigkeit, um nur die augenfälligsten der negativen Konsequenzen zu nennen.

Im Zuge dieses Neoliberalismus hat die Ökonomisierung alles und jedes durchdrungen, so dass jedes menschliche Tun und jede Beziehung auf die Frage reduziert wird: was kostet es mich und was bringt es mir? Diese Entwicklung hat auch vor dem Bildungswesen nicht halt gemacht. Da wird nur noch von Produkten und Klientinnen gesprochen und jede Dienstleistung muss in Teilziele zerlegt, evaluiert und in Franken und Rappen gerechnet und verrechnet werden. Das gleiche gilt für die staatlichen Verwaltungen generell, dort hat das New Public Management (NPM) Einzug gehalten, in Luzern heisst es WOV, in Zürich WIV, in Bern FLAG und in Graubünden Griforma. Ich habe aber festgestellt, dass mindestens auf Bundesebene die Begeisterung schon etwas abgeflaut ist und dass die Einsicht wächst, dass staatliches Handeln nicht einfach als Kunden/Verkäufer- Verhältnis definiert werden kann. Es gibt viele Dienststellen, die sich um die Einhaltung von gesetzlichen Vorschriften kümmern müssen, und das manchmal gegen den Willen des „Kunden“.

Lassen Sie mich ein paar Folgen des Neoliberalismus aufzeigen:

  • In den letzten Jahren verzeichneten die psychiatrischen Kliniken eine Zunahme depressiver Patientinnen von fast 100 Prozent, das Risiko für einen jungen Menschen, an einer Depression zu erkranken, hat sich seit den Achtzigerjahren beinahe verdoppelt. Viele Menschen sind überfordert mit den steigenden Anforderungen im Beruf und der gleichzeitigen Auflösung von vertrauten Strukturen und geraten in einen Dauerstress. Viele Fachleute sprechen von einer Zeitkrankheit mit epidemischem Charakter sprechen. 150 000 im Erwerbsleben stehende Menschen pro Jahr werden von einem Depressionsschub heimgesucht und sind in dieser Zeit völlig arbeitsunfähig. Gleichzeitig rühmt sich die IV, dass die Zahl der neuen Fälle zurückgegangen sei und dass das Ziel, eine zwanzigprozentige Reduktion der IV-Fälle sein müsse.
  • Im Jahr 2005 betrugen die Ausgaben für die Sozialwerke 100 Milliarden Franken. Eine am 16. März 2006 vorgestellte Studie kommt zum Schluss, dass diese auf 143 Milliarden bis im Jahr 2030 anwachsen werden, was einer Zunahme von 43 Prozent entspricht. Die Sozialausgaben – AHV, IV, Ergänzungsleistungen, Erwerbsersatz, obligatorischer Bereich der zweiten Säule, die Krankenversicherung, die Unfallversicherung, die Familienzulagen, die ALV – werden also voraussichtlich bis zum Jahr 2030 einen Viertel des Bruttoinlandproduktes ausmachen. Sie werden, immer laut dieser Studie, rascher wachsen als die Wirtschaft. Das ist die Kehrseite der Medaille neoliberaler Wirtschaftspolitik.
  • In der Stadt Luzern werden 124 Personen vom Sozialamt unterstützt, obwohl sie mindestens 36 Wochenstunden arbeiten. 42 dieser Fälle sind Alleinerziehende. Kinder sind eines der grössten Armutsrisiken geworden! Diese sogenannten working poors machen 15% aller Sozialhilfe Bezügerlnnen in der Stadt Luzern aus.

Der Missbrauchsdiskurs und seine Folgen für die Betroffenen

Solche Verwerfungen und Umbrüche sind nicht Naturphänomene, sie fallen nicht vom Himmel, sondern sie sind von Menschen gemacht, sie spielen sich nicht im Niemandsland ab und ihre Bewältigung ist abhängig vom Menschenbild der Akteure. Wie die Gesellschaft auf veränderte Situationen und Umbrüche reagiert, wird durch den politischen Diskurs beeinflusst und dieser ist seit mehr als einem Jahrzehnt nicht nur auf das Thema «Wir und die Andern», sondern auch auf das Thema «Missbrauch» eingestellt.

Damit ich nicht in die Ecke der blauäugigen Naiven gestellt werden kann, möchte ich sagen, dass ich Missbrauch keineswegs gut heisse und selbstverständlich der Meinung bin, dass mit den öffentlichen Geldern sorgfältig umgegangen werden muss und dass sich niemand, der in einer sozialen Institution tätig ist, von Klienten und Klientinnen auf der Nase herumtanzen lassen muss. Was wir aber jetzt erleben, ist in seiner Verkürzung und Versimpelung ein Missbrauch des Missbrauchsthemas, dass eine vernünftige Diskussion ehr erschwert. Und es lohnt sich, die Frage zu stellen, was die Absicht hinter der Thematisierung des Missbrauchs ist. Wenn es tatsächlich um Sorgfalt und die Einhaltung des Rechts geht, kann ja kein vernünftiger Mensch dagegen sein. Wenn es aber darum geht, ganze Gruppen in ein schiefes Licht und unter Missbrauchsverdacht zu stellen, dann muss man hellhörig werden und sich fragen, was die Absicht hinter dem Missbrauchsdiskurs ist. Meine These: es geht dabei um einen generellen Angriff auf den Sozialstaat, der heruntergefahren werden soll. Diese Entwicklung geht mit einer generell feststellbaren Entsolidarisierung und einem zunehmende Mangel an Empathie einher, wie ich oben erwähnt habe.

Ich möchte kurz auf die verschiedenen Phasen des Missbrauchdiskurses zurückblenden:

Er begann im Asylbereich mit der Folge, dass 2005 das Asylgesetz so verschärft worden ist, dass die, die aus den oben erwähnten Gründen fliehen, gar nicht mehr ins soziale Netz gelangen können. Obwohl weltweit die Anzahl der Flüchtlinge steigt, sind bei uns die Zahlen drastisch gesunken, sie haben sich in den letzen paar Jahren von über 20 000 auf 10 000 halbiert.

Dann folgte der IV-Bereich mit der Folge, dass der Zugang zur Invaliden-Versicherung massiv erschwert wurde. Am 19.09.2007 stand in den Zeitungen, dass die IV im ersten Semester 2007 9'300 Neurenten zugesprochen habe. Gegenüber dem ersten Semester 2003 mit 14’500 Neurenten bedeutet das einen Rückgang von über 35%. Es gibt in Leserbriefen und Zeitschriften immer wieder Berichte von Betroffenen, dass ihnen bisher selbstverständliche Leistungen gekürzt würden und dass es viel schwieriger geworden sei, trotz Arbeitsunfähigkeit eine IV-Rente zu erhalten. Auch hier hat der Missbrauchsdiskurs dazu geführt, dass nicht einfach stossende Missbrauchsfälle verhindert worden sind, sondern der Zugang zu diesem sozialen Netz einfach generell erschwert worden ist.

Zurzeit ist die Sozialhilfe im Visier. Seit einigen Monaten vergeht keine Woche, ohne dass ein Fall von Missbrauch in den Medien hochgefahren und von der Politik ausgeschlachtet wird. Eine ganz wichtige Rolle spielt in diesem Zusammenhang die Weltwoche. Nach einem wochenlangen Sperrfeuer gegen die Zürcher Sozialdirektion verlangte sie in der Ausgabe vom 23. August 2007 in einem äusserst polemischen Artikel „das Ende der Vollkasko-Mentalität“ und bezeichnet den Berufsstand der sozial Engagierten als «durchseucht von Dogmen, Tabus und Vorurteilen» und es zähle nicht was sei, sondern wie es sein sollte.

Vorgestern ist Monika Stocker nach diesem monatelangem medialen und politischen Sperrfeuer zurückgetreten. Wenn sie es nicht getan hätte, wäre sie ernsthaft erkrankt. Die Kampagne gegen sie nahm zum Teil phanatisierte Züge an und kann politisch nicht einfach nur mit der Sturheit einer Uneinsichtigen erklärt werden. Es geht um mehr! Die Weltwoche wird da deutlich, sie spricht wieder von Fürsorge und nicht von Sozialhilfe und sie will zurück in vergangen geglaubte Zeiten des Sozialwesens mit Forderungen nach Leistungsbeschränkungen auf das Lebensnotwendige, nach Selbstbehalten, nach Nothilfe, nach 10-jährigen Karenzfristen für Migrantinnen und Migranten, nach Einbürgerungs- und Niederlassungsverweigerung für Sozialhilfebezüger, nach Kürzungen für Langzeitbezügerinnen und -Bezüger, nach obligatorischen Arbeitseinsätzen, nach unangemeldeten Hausbesuchen und Stichproben auch ohne Verdacht auf Missbrauch und dergleichen mehr. Der Sozialhilfebezüger nach Lesart der Weltwoche ist selber schuld an seiner Misere und soll mit Druck und Kontrolle geknechtet werden, dass es ihm verleidet.

Meine Befürchtung von damals, es beginne zwar mit der Zielgruppe Ausländer und Asylsuchende, die ins Visier gerate, es könne aber alle Randständigen treffen, auch einheimische, hat sich voll bestätigt. Ein erschütternder Bericht im Beobachter im letzten Herbst hat eindrücklich gezeigt, wie Menschen gesellschaftlich unter Druck geraten, ganz einfach weil sie Sozialhilfe brauchen und deshalb unter generellem Missbrauchverdacht stehen. So gesellt sich für die Betroffenen zur ohnehin schwierigen Bewältigung der Umstände, die zur Sozialhilfe geführt haben, wegen des Missbrauchsdiskurses heute noch die soziale Kälte, mit der sie von der Umwelt behandelt werden. Damit wird der Diskurs, das Reden über soziale Probleme, selbst zum Problem, weil er bestehende Probleme verschärft und gute Lösungen erschwert oder gar verunmöglicht.

Ich komme zum Schluss: das wird Folgen haben auf die Gesellschaft als ganzes. Es wird vermehrt zu einer Ausgrenzung von Personen „am Rand“ kommen, von Personen, die in irgendeiner Form auf Unterstützung angewiesen sind, sei es, weil sie krank, arbeitsunfähig, erwerbslos oder alt sind. Die «Scheininvaliden»-Debatte hat bereits ihre Früchte getragen. Die letzte IV-Revision erhöht den Druck auf Menschen mit physischen und psychischen Schwierigkeiten und Behinderungen. Es ist ein Trugschluss zu glauben, man könne eine jahrelange Ausgrenzungspolitik gegen eine Gruppe von Menschen – Migrantinnen und Migranten – machen, ohne dass das Auswirkungen auf andere Gruppen hat. Und plötzlich findet man sich selbst in einer solchen Gruppe wieder, weil erwerbslos, oder krank oder alt. Das kann Sie oder Sie oder mich, alle von uns treffen! Wollen wir das wirklich?

Das meine Einschätzung zur Lage der Nation mit dem spezifischen Fokus, ob sich das Leben nach dem Oktober 2007 für alle Menschen verbessere, auch für die am Rande der Gesellschaft.

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