Kolumne 60plus: Misslungene Provokation

| Kolumne erschienen auf der Website von Luzern60plus

Weniger Macht für Alte? Eine Nachlese

Sollen die Stimmen junger Leute an der Urne doppelt so viel Gewicht erhalten, wie die Stimmen der Alten? Mit dieser Frage platzte die Zürcher Justizdirektorin Jacqueline Fehr mitten ins Sommerloch. Das kann doch nicht ihr Ernst sein, habe ich mir gedacht, denn ich schätze Jaqueline Fehr, seit ich sie im Nationalrat kennengelernt habe, als kreative, gescheite und engagierte Politikerin sehr. Wir zogen damals meistens am gleichen Strick und unterstützten uns gegenseitig.

Diesmal ist es anders! Zum ersten Mal brachte sie eine Idee in die politische Debatte, die ich absolut nicht mit ihr teile, mehr noch: ich finde den Vorschlag gefährlich und geschichtsvergessen noch dazu. Da hat Jaqueline Fehrs legendärer politischer Instinkt versagt!

Allein die Tatsache, jung zu sein, gilt bei diesem Vorschlag als Grund, politisch doppelt so viel zu wiegen, wie jemand, der älter ist. Auf Grund eines Kriteriums, welches nicht selbstgewählt oder selbstverschuldet ist, soll meine Stimme an der Urne nur halb so viel Gewicht haben, wie die Stimme eines jungen Menschen. Dahinter steckt implizit die Unterstellung: alle Alten schauen – im Gegensatz zu den Jungen – nur für sich selbst, deshalb müssen sie von den Jungen mit doppelten Stimmgewicht in die Schranken gewiesen werden. Dagegen wehre ich mich entschieden! Nicht nur, weil es mein Gerechtigkeitsempfinden verletzt. Ich nehme für mich auch in Anspruch, meine Stimme für Gerechtigkeit zwischen arm und reich, Frau und Mann, Jung und Alt einzusetzen und dafür, dass sich unsere Gesellschaft nachhaltig entwickelt. Die Haltung, nur für sich selber zu schauen, ist leider weit verbreitet. Aber die Trennlinie verläuft überhaupt nicht zwischen den Generationen, sondern entlang weltanschaulicher politischer Linien.

A propos Geschichte: mir kommen ganz ungute Erinnerungen an die Anfänge der Demokratie in den Sinn. Da besassen nur reiche, einflussreiche weisse Männer das Stimmrecht, weil man glaubte, nur diese könnten damit vernünftig umgehen, das dumme Volk und im Besonderen die Frauen seien dazu sowieso nicht in der Lage. Als letzte erhielten wir Frauen das Stimmrecht, und das war ein ganz entscheidender Schritt für unser Selbstbewusstsein. Endlich gehörten wir gleichberechtigt dazu. Die grosse Errungenschaft, dass jede Person, unabhängig von Status, Alter und Geschlecht über eine Stimme verfügt, darf unter gar keinen Umständen in Frage gestellt werden. Wo führt denn das hin, wenn Stimmkraft nach «Nützlichkeit» vergeben wird, nicht auszudenken!

Schade, dass Jaqueline Fehr diese Büchse der Pandora geöffnet hat, auch wenn sie nach den heftigen Reaktionen versucht hat, sie wieder zu schliessen. Die Frage bleibt, warum sie diese Idee überhaupt in die Welt gesetzt hat. Wollte sie einfach provozieren? Manchmal dient eine Provokation dazu, festgefahrene Denkmuster ins Wanken zu bringen, um zu neuen Ufern aufzubrechen. Das ist in diesem Fall gründlich misslungen, denn diese Idee ist kein Fortschritt, sondern ein Rückfall hinter die hart erkämpfte Errungenschaft «ein Mensch – eine Stimme».

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