Kolumne 60plus: Klassentreffen

| Kolumne erschienen auf der Website von Luzern60plus

Ausgang am Mittag

Ich erhielt diesen Sommer die Einladung zur Klassenzusammenkunft des 49er-Jahrgangs meiner Primarschule in Sempach. Mit grossem Erstaunen konstatierte ich, dass dieses alle fünf Jahre sich wiederholende Treffen diesmal nicht wie bisher am Abend, sondern am Mittag stattfinden sollte. Sind wir denn schon so alt, dass wir uns nicht mehr am Abend treffen können, habe ich mich gefragt und mich mit einem leichten Unbehagen trotzdem angemeldet.

Meine ehemaligen Schulgspänli erschienen am 13. September so zahlreich zum Treffen wie in den letzten Jahren. Der Austausch war rege und ganz offensichtlich hatten sich alle nach den fünf Jahren seit dem letzten Mal viel zu erzählen. Neu war diesmal das Thema Pensionierung, sind doch fast alle inzwischen offiziell aus dem Arbeitsleben ausgeschieden. Auffallend für mich war, wie unterschiedlich wir gealtert sind: Während die einen noch fit und energiegeladen wirkten, sahen andere schon recht vom Leben gezeichnet aus. Da war zum Beispiel Peter, braungebrannt und weltgewandt, er ist beruflich viel herumgekommen; da war aber auch Marta, ganz offensichtlich depressiv und kaum ansprechbar. Interessant waren für mich auch Gespräche mit einigen meiner Klassenkameradinnen, welche inzwischen geschieden sind. Die eine, die es in jungen Jahren in ein kleines Bergdorf verschlagen hatte, hat dort unter grossem sozialen Druck eine schwierige Scheidung durchgestanden und lebt jetzt zufrieden in einer neuen Beziehung; eine andere, die von ihrem Mann wegen einer jüngeren Frau verlassen worden ist, hat dieses Ereignis bitter gemacht. Auffallend viel wurde das Thema Krankheit angesprochen, dabei erfuhr ich von Depressionen, Schizophrenie und Aufenthalten in Psychiatrischen Kliniken. Also nichts von heiler Welt auf dem Land, die ganze Palette von Sorgen und Nöten wurde in den Gesprächen in geraffter Form gestreift. Es kam mir vor wie ein Abbild von all den Geschichten, die das Leben so schreibt.

Nach dem Mittagessen kam das Traktandum «Organisatorisches» zur Sprache. Ich erkundigte mich, warum wir uns nicht mehr am Abend treffen würden, wir seien doch mit 65 noch nicht im Altersheim-Alter und könnten doch noch abends in den Ausgang. Und da die Organisatorinnen bereits vorgeschlagen hatten, dass wir uns ab jetzt immer mittags treffen würden, interessierte es mich, ob das alle andern auch so möchten. Ich schlug vor, dass wir darüber abstimmen, und das Ergebnis liess keinen Zweifel: Nur zwei waren wir, die lieber auf das Treffen am Abend zurückgekommen wären, die überwältigende Mehrheit war mit dem neuen Modell zufrieden.

Eine Woche vorher war ich – als ihre frühere Lehrerin – von einer ehemaligen Klasse zum ersten Mal zu ihrer Klassenzusammenkunft eingeladen worden. Es war meine erste Klasse gewesen und sie waren damals im Jahr 1970 nur zehn Jahre jünger als ich, jetzt sind sie 55. Obwohl ich die meisten seither nie mehr gesehen habe, habe ich fast alle wieder erkannt. Und ich habe gestaunt, wie viele Geschichten sie von mir noch wussten und woran sie sich noch erinnerten. Die eine erzählte mir, dass ich ihr vorgeschlagen habe, die Klasse zu repetieren und dass sie von mir sehr enttäuscht gewesen sei. Eine andere sagte, dass sie meinetwegen bis heute ihren Namen behalten und nicht den ihres Mannes angenommen habe und eine Dritte, die wie ich auf den Namen Cäcilia getauft ist, erzählte, dass sie meinetwegen ihren Namen in der französischen Version Cécile zu schreiben begann. Mir wurde wieder einmal bewusst, wie gross und nachhaltig der Einfluss von Lehrpersonen auf Kinder ist und dass daraus eine grosse Verantwortung entsteht.

Diese Klassenzusammenkunft fand übrigens am Abend statt. Ob das in zehn Jahren auch noch so sein wird?

(Die Namen der Personen sind geändert.)

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