Integrationsarbeit durch Migrantinnen und Migranten
| anlässlich der Verleihung des Preises 2008 von Quer – Stiftung «Luzern-Lebensraum für die Zukunft»
Preis für unspektakulären Integrationsbeitrag
Die Stiftung «Luzern – Lebensraum für die Zukunft» zeichnet, wie sie selber sagt, Leute und Projekte aus, die Brücken zu andern Lebensräumen schlagen, also Personen und Institutionen, die sich zwischen Lebensräumen befinden, sozusagen Grenzgängerinnen sind.
Kompetenz aus Erfahrung
Sie, liebe Interkulturelle Vermittlerinnen und Vermittler, sind demzufolge ideale Preisträger, denn Ihre Funktion ist die Vermittlung, die Übersetzung, das geschickte Bewegen in den Zwischenräumen zwischen der Welt der Einheimischen und der Welt der Zugewanderten.
Diese Kompetenz haben Sie sich unter anderem auf Grund Ihrer eigenen Lebensumstände erworben, die dazu geführt haben, dass Sie selber in zwei Welten gelebt haben. Denn aus unterschiedlichsten Motiven haben sie Ihre Herkunftsregion verlassen und sind in die Schweiz gekommen. Die einen von Ihnen haben das in völliger Freiheit getan, ganz einfach auf der Suche nach einem neuen Leben und neuen Perspektiven. Andere hat die Liebe in die Schweiz gebracht. Wieder andere von Ihnen sind aus materieller Not ausgewandert und haben sich eine gesicherte Zukunft in einem stabilen und wohlhabenden Land aufgebaut und andere mussten die Heimat verlassen, weil sie verfolgt wurden und ihres Lebens nicht mehr sicher waren.
Nur schon diese unterschiedlichen Motive des Weggehens deuten darauf hin, dass Sie mit unterschiedlichen Gefühlen Ihrer ehemaligen Heimat gegenüber hier in der neuen Heimat leben, denn wer freiwillig sein Land verlässt und jederzeit gefahrlos zurückgehen kann, hat ein ganz anderes Verhältnis zur hergebrachten Welt, als wer dieses unter Gefahr oder aus Not verlassen musste. Deshalb sind auch die Welten zwischen Ihnen wahrscheinlich recht gross und es wäre auch interessant, diese Zwischenräume einmal auszuloten.
Hergebrachte und neue Welt
Ihre Funktion sei die Vermittlung, die Übersetzung, das geschickte Bewegen in den Zwischenräumen zwischen der Welt der Einheimischen und der Welt der Zugewanderten, habe ich eingangs gesagt. Was da so simpel tönt, ist eine Angelegenheit mit ganz vielen schwierigen Implikationen: Welches ist denn genau die Welt der Einheimischen? Ist es meine Lebenswelt hier in Luzern? Oder ist es die Welt einer Bergbäuerin aus dem Schächental? Und welches ist die Welt der Zugewanderten? Ist es die einer städtischen Intellektuellen aus den USA, die hier an der Universität unterrichtet oder die einer Bäuerin aus dem ländlichen Kosova, die hier als Hausfrau sehr zurückgezogen lebt? Es ist sogar möglich, dass die Lebenswelten der Bergbäuerin aus dem Schächental und die frühere Lebenswelt der Bäuerin aus Kosova mehr Gemeinsamkeiten aufweisen als meine Lebenswelt mit der der Bergbäuerin aus dem Schächental. Denn es sind die Lebensumstände, die stärker prägen als so etwas wie eine national definierte Kultur, wie die schweizerische Kultur, die albanische Kultur.
Integration verläuft bei jedem/jeder etwas anders
Migration und Integration sind keine linearen Prozesse. So gibt es zum Beispiel das interessante Phänomene dass Migrantinnen und Migranten, die sich am neuen Ort nicht heimisch fühlen, die wenig Kontakt haben und die die Migration insgesamt nicht als positiv erfahren, dazu neigen, sich sehr stark nach der alten Heimat und deren Traditionen zurücksehnen, obwohl genau diese Heimat sie nicht ernähren konnte. Sie konservieren Bilder jener Gegend, wie sie vor 20 Jahren war, als sie emigrierten und sind dadurch zum Teil konservativer und traditionsbewusster als ihre Verwandten zu Hause, deren Welt sich in den letzten 20 Jahren verändert hat. Dieser Rückgriff auf die Tradition kann einerseits dazu führen, dass die Zurückgebliebenen und die Ausgewanderten sich gegenläufig verändern und einander immer fremder werden und andererseits, dass Migrantinnen und Migranten manchmal mehr gemeinsam haben mit konservativen Schweizerinnen und Schweizern als mit ihrer Verwandtschaft zu Hause. Das ist eine der Erklärungen, warum die nationalkonservative SVP für viele Eingewanderte durchaus attraktiv ist. Eine andere ist, dass Leute, die sich selber extrem anpassen und zu Superschweizern werden, in dieser Partei willkommen sind, weil sie dem Idealbild des assimilierten Eingewanderten entsprechen und somit der lebendige Beweis dafür sind, dass die schweizerische Kultur doch das Mass aller Dinge sei.
Zum Kulturbegriff
Da alle von Kultur sprechen, darunter aber so viel Verschiedenes verstanden wird, lohnt es sich, den Begriff genauer anzuschauen. Der klassische Kulturbegriff geht davon aus, dass Kulturen homogene, in sich kohärente, geschlossene und von andern abgrenzbare Systeme sind, die eine lebenslange und unveränderbare Prägung für alle Mitglieder der entsprechenden Gruppe erzeugen. Die so Geprägten können nie aus diesem kulturellen Kleid, das eng wie eine Haut auf den Körper geschneidert sei, aussteigen und zwar spielt es keine Rolle, ob sie in der Heimat bleiben oder auswandern. In diesem statischen Kulturverständnis stellt Kultur eine Art übersubjektive Totalität dar, ein System, dem man nie entrinnen kann. Mit diesem so verstandenen Kulturbegriff wurde und wird immer noch viel Unfug getrieben. Er wird gebraucht, um Menschen auszugrenzen, abzuwerten, um sie wegen ihrer «anderen» Kultur und wegen der «kulturellen Distanz» als mit uns nicht kompatibel zu deklarieren und ihnen damit ihre Integrationsfähigkeit abzusprechen.
Auf der Suche nach einem tauglicheren und nicht missbräuchlich verwendbaren Kulturbegriff sind von Fachleuten verschiedene neue Bilder verwendet worden: Kultur als eine «Landkarte der Bedeutungen», als ein «Feld der Möglichkeiten», es wird von kulturellen Mustern als «eine Art historisches Reservoir» gesprochen, von kulturellen Erfahrungen als «Rohstoff», der sich verarbeiten lässt. Der Berner Ethnologie-Professor Hans-Rudolf Wicker hat einmal gesagt, dass Kultur existiere, dass alle Menschen kulturelle Wesen seien, dass aber Kulturen nicht existierten. Nach diesem breit verstandenen Kulturbegriff ist jedes menschliche Tun Kultur.
Sie sehen, interkulturelle Vermittlerinnen müssen nicht einfach eine Sprache in eine andere übersetzen können, sondern nebst hoher Sprachkompetenz auch ganz viel Gesellschaftswissen, Kontextwissen über die jeweiligen Länder und die unterschiedlichen Herkunsftsmilieus der Migrantinnen und Migranten haben. Nicht umsonst heisst die Vereinigung der interkulturellen ÜbersetzerInnen in der Schweiz «Interpret», weil das was sie beherrschen müssen nicht einfach ein grammatikalisches Regelwerk ist, respektive deren zwei, sondern sie müssen die Konnotationen kennen, die ein Begriff in der jeweiligen anderen Kultur hervorruft. Sie müssen interpretieren, umschreiben, beschreiben und das ist umso wichtiger und schwieriger, je weiter weg die kulturellen Welten sind, die sie durch ihr Interpretieren einander näher bringen müssen.
Anschauungsbeispiele
Ich mache Ihnen ein Beispiel aus meiner eigenen Erfahrung: als ich beim Bildungsdepartement für die Interkulturelle Erziehung zuständig war, gehörte es zu meinem Aufgabenbereich, dafür zu sorgen, dass alle wichtigen Dokumente, welche für die Eltern gedacht waren, in die häufigsten Migrationssprachen übersetzt wurden. Als damals die Broschüre über das neu eingeführte Übertrittsverfahren anstand, war eines der grossen Probleme, wie man den Begriff «Übertrittsverfahren» übersetzen konnte, weil es dafür gar kein Pendant in der andern Sprache gab. Weder in Portugal, noch in Spanien, Italien oder der Türkei gab es so etwas wie ein Übertrittsverfahren, kennen doch diese Länder keine Selektion nach der Primarschule, sondern eine ungebrochene gemeinsame obligatorische Volksschule. Die Kunst war nun, in jeder Sprache einen Begriff zu kreieren, der am ehesten umschreibt, was denn ein Übertrittsverfahren ist, und so kamen wir dann auf Lösungen, die zurückübersetzt Selektionsprozess hiessen.
Ein anderes Beispiel wirft ein Schlaglicht auf die Schwierigkeiten mit gesellschaftlichen Tabus umzugehen, auch damit können interkulturelle Übersetzerinnen und Übersetzer konfrontiert sein: als Politikerin habe ich verlangt, dass im Asylverfahren Frauen von Frauen über ihre Fluchtgründe befragt werden müssten. Um mir selber ein Bild einer solchen Anhörung zu verschaffen, wollte ich einmal an einer Befragung dabei sein. Die befragte Flüchtlingsfrau berichtete, wie sie auf einer Polizeistation geschlagen worden sei, dass sie sich hätte ausziehen müssen und alles deutete darauf hin, dass sie sexuelle Gewalt erfahren hatte. Der Dolmetscher sagte aber nur, dass die Frau jetzt Dinge gesagt hätte, die er nicht übersetzen könne, da man solche Dinge nicht sage. Es war ihm ganz offensichtlich peinlich, in Anwesenheit der Befragerinnen und der Befragten – es waren alles Frauen – über sexuelle Gewalt zu sprechen und er überliess es uns, aus seinen indignierten Andeutungen herauszulesen, was wirklich passiert sein könnte. Darf er das, habe ich mich gefragt und mir ist schlagartig bewusst geworden, welche Macht und Verantwortung ein Übersetzer hat, weil niemand ihn kontrollieren kann und es eine absolute Vertrauensgeschichte ist. Wie weit darf der Übersetzer, die Übersetzerin etwas weglassen oder umschreiben? Wie weit spielt seine oder ihre eigene Sozialisation eine positive Rolle im Sinne des «sich gut einfühlen könnens» in die Person aus der gleichen Herkunftskultur? Oder um das vorhin geschilderte Beispiel der Anhörung nochmals aufzunehmen: kann diese Sozialisation nicht auch eine negative Rolle spielen? Denn wenn die Frau in der Anhörung über ihre sexuelle Gewalterfahrung spricht, aber der Übersetzer das verwedelt oder gar unterschlägt, kann das ihre Chance auf Asyl verhindern.
Grosse Verantwortung
Damit will ich zum Ausdruck bringen, dass Übersetzerinnen und Übersetzer bei sehr heiklen und folgenreichen Gesprächen für die Betroffenen eine grosse Verantwortung haben und dass sie eine dauernde Gratwanderung im interkulturellen Kontext bewältigen müssen. Denn sie stecken mitten drin in der Grauzone zwischen Anpassung an die neue Welt und Erhalt des Hergebrachten. Sind sie noch glaubwürdig bei der eigenen Klientel, wenn sie funktionieren wie wir oder gelten sie dann als so etwas wie Verräter an der eigenen Herkunft? Sollen sie zum Beispiel autoritär auftreten, wenn das zu Hause so der Regel entspricht oder sollen sie eher unsere «Verständnis- und Erklärkultur» anwenden? Sie sehen, Integrationsarbeit ist eine ganz und gar nicht einfache Aufgabe!
Ich habe zu beschreiben versucht, dass «Kultur» ein Sammelbegriff für all die kreuz und quer verlaufenden Prozesse der Überlieferung und Umgestaltung verschiedenster und heterogenster Bedeutungswelten ist. Deshalb besitzen ja eben auch Individuen keine fest gegossene kulturelle Identität, sondern sie bewegen sich in einem variablen Feld von kulturellen Prägungen. Ein solches Kulturkonzept begreift und beschreibt die kulturelle Dimension dynamisch, es geht nicht um Reinheit der Kultur: Vermischung, Durchdringung und Überlagerung sind ihre Metaphern.
Unterschiedliche Integrationsvorstellungen
Um das Ganze noch etwas komplizierter zu machen, möchte ich noch einen Blick auf unsere Welt, auf die so genannte Aufnahmegesellschaft werfen. Auch da herrschen unterschiedlichste Vorstellungen von Kultur und was im heutigen Zusammenhang noch wichtiger ist, von Integration. Die Eingabe des Wortes «Integration» in der Google-Maschine ergab innerhalb von 0.24 Sekunden 160 Millionen Einträge. Es muss sich also um ein viel diskutiertes Phänomen handeln. Als Vergleich dazu ergab der Begriff «Identität» nur 7 Millionen Einträge in 0,21 Sekunden. In der Enzyklopädie Wikipedia steht zum Begriff «Integration» folgendes: Das Wort «Integration» kommt von lat. integer bzw. griech. Entagros, das heisst unberührt, unversehrt, ganz. Zu deutsch bezeichnet es die Herstellung eines Ganzen.
Ich habe mal die Webseiten der Parteien nach ihren Integrationsvorstellungen abgeklopft und bin auf bemerkenswerte Unterschiede gestossen:
«Die ausländische Wohnbevölkerung gehört zu unserer Gemeinschaft Schweiz. Wir brauchen auch in Zukunft Zugewanderte zur Sicherung unseres Wohlstandes. Allzu generöse Regelungen für Wirtschaftsflüchtlinge verzerren aber das Bild weg von der Chancengleichheit hin zur Bevorzugung. Integration ist eine gemeinsame Aufgabe von Politik, Staat, Wirtschaft und Zugewanderten.» (CVP-Nationalrätin Kathrin Amacker)
«Die Integration ist Grundlage für Lebensqualität, Wohlstand und Sicherheit. Die Integration verkleinert die Risiken asozialen Verhaltens und der Ausgrenzung. Integration ist volkswirtschaftlich sinnvoll. Erfolgreiche Integration hat im internationalen Standortwettbewerb Vorbildcharakter.» FDP-Integrationspolitik)
«Integration ist dann gelungen, wenn Migrantinnen und Migranten in den verschiedenen Integrationsbereichen vergleichbare Kennzahlen wie die Schweizerinnen und Schweizer aufweisen – beispielsweise hinsichtlich Bildungsniveau, Erwerbslosenquote, Sozialhilfeabhängigkeit, Armutsrisiko, Invalidität, Kriminalität oder Gesundheit.» (SP-Integrationspapier)
«Es ist höchste Zeit, die Regeln unseres Landes wieder durchzusetzen. Wer hier Gast ist, hat die schweizerische Rechtsordnung zu beachten und unsere Sitten und Gebräuche zu respektieren – oder aber das Land zu verlassen. Wer hier Gast ist, hat auch die Verantwortung für sich und seine Familienangehörigen nach bestem Wissen und Gewissen und nach Kräften zu tragen. Wer hier Gast ist, hat sich in erster Linie selber um seine Integration zu bemühen.» (SVP-Integrationspapier)
«Integration ist ein gegenseitiger Prozess zwischen Einheimischen und MigrantInnen. Chancengleichheit und Mitbestimmungsrechte für alle in der Schweiz lebenden Personen sind die wichtigste Voraussetzung für einen gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt und eine zukunftsorientierte Entwicklung.» (Die Grünen)
Der Gebrauch – oder Missbrauch – des Themas für politische Profilierung und die permanente Thematisierung von Missbrauch und nicht geglückter Integration verstellt den Blick dafür, dass in der Schweiz auch ganz viel Integration gelungen ist, allen scharfen Tönen der Politik zum Trotz!
Schlussgedanken
Dazu tragen Sie mit Ihrer unspektakulären Arbeit tagtäglich ein Stück bei. Sie leisten mit Ihrer interkulturellen Übersetzungsarbeit dazu einen grossen und anspruchsvollen Beitrag. Mit der heutigen Auszeichnung durch die Stiftung «Luzern – Lebensraum für dir Zukunft» wird diese Arbeit aus dem Verborgenen ans Licht geholt und zum Ausdruck gebracht, dass das was Sie tun, zukunftsträchtig ist und Modellcharakter hat. Angesichts der Auseinandersetzungen in der heutigen Welt, die oft entlang kultureller, religiöser oder ethnischer Grenzen verlaufen, ist weltweit noch ganz viel interkulturelle Übersetzungsarbeit erfordert. Die Arbeit wird Ihnen also nicht ausgehen!